Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Liebe.
»Du willst ihn nicht wiedersehen, stimmt’s?«
Die Klippe unter ihm würde es noch geben, wenn sein Leben längst vorbei war.
So schnell konnten die Dinge plötzlich hinter einem liegen.
Er legte den Kopf in den Nacken und lauschte noch einmal den Stimmen ihrer Vergangenheit: den Jubelrufen derer, die sie einst waren, und deren Nachhall. Er hörte sie jäh verstummen, als das Auto ansprang.
Dass Freundschaft ein Bündnis auf Gegenseitigkeit war, das war Bryan schon immer klar gewesen. Dass das Handeln desEinen zum Bruch führen konnte, diese Erkenntnis hatte ihn nun fast dreißig Jahre lang gequält. Doch soeben hatte ein neuer Gedanke sich seiner bemächtigt. Ja. Auch am Nicht-Handeln des Anderen konnte eine Freundschaft zerbrechen. Dreißig Jahre hatte es gebraucht, diesen Gedanken zuzulassen.
Bryan heftete den Blick auf die Felskante.
Zwei Jungen winkten ihm zum Abschied lächelnd zu. Er stand da und erwiderte ihr Lächeln, lebendig, nackt und einer ungewissen Zukunft zugewandt.
Träge tanzten die letzten Sonnenstrahlen des Tages für den allerletzten Simulanten des Alphabethauses.
ANHANG
Nachwort und Dank
Dieses Buch ist kein Kriegsroman.
Es erzählt eine Geschichte von menschlichem Versagen und davon, wie leicht es passieren kann, dass Menschen einander im Stich lassen. Jedem kann das passieren. Das gilt für die Ehe, das gilt für den Beruf – und ganz besonders gilt das natürlich für Extremsituationen wie einen Krieg.
Dass ich die Handlung des Romans in den Zweiten Weltkrieg verlegte, hatte mehrere Gründe. Als Sohn eines Psychiaters bin ich gewissermaßen in »Nervenheilanstalten«, wie das in den fünfziger und frühen sechziger Jahren hieß, aufgewachsen. Und obwohl mein Vater damals zu den fortschrittlichen Ärzten gehörte, der neue, humanere Ansätze propagierte, erlebte ich unweigerlich und unmittelbar mit, wie »Geisteskranke« seinerzeit behandelt wurden. Viele von ihnen waren schon seit den dreißiger Jahren in diesen Anstalten. Als naives, aufmerksames Kind hatte ich ein paar dieser Patienten kennengelernt, die ich für Simulanten hielt. In meiner Jugend beschäftigten mich dann die damals üblichen Behandlungsmethoden, aber auch der Begriff des »Kranken«-Hauses und die Rolle des Arztes, besonders auch während des Krieges.
Einer der Langzeitpatienten meines Vaters sprach während seines gesamten Krankenhauslebens immer nur dieselben zwei Sätze: »Ja, da ist was!«, sagte er zu fast allem. Und mit »Oh, Gott sei Dank!« schloss er fast jede Situation aufrichtig erleichtert ab. Er war einer von denen, die ich in Verdacht hatte zu simulieren, um sich aus mir völlig unbegreiflichen Gründen aus der Gesellschaft verabschieden und in die Ruhe und den Frieden des Behandlungssystems zurückziehen zu können.
Aber ist es möglich, als gesunder Mensch jahrelang in einem solchen Milieu zu überleben, ohne dabei den Verstand zu verlieren? Kaum vorstellbar, wenn man die Brutalität der damaligen Behandlungsmethoden bedenkt. Und wurde jener wortkarge Patient nicht vielleicht doch im Laufe der Jahre tatsächlich krank – unter dem Einfluss des Systems?
Viele Jahre später traf mein Vater diesen Patienten wieder. Soweit ich weiß, war das in den siebziger Jahren, als die Welt in vielerlei Hinsicht freier geworden war. Das hatte offenbar auch auf diesen Mann abgefärbt, denn er hatte sein Repertoire um einen dritten Satz erweitert: »Leck mich am Arsch!« War auch er damit dem Zeitgeist gefolgt?
Und wieder dachte ich: »Ist der Mann wirklich krank?« Oder war es nicht eher die Zeit?
Meine Lust, diese beiden mich so faszinierenden Phänomene in einer Geschichte zusammenzubringen – den
vielleicht
Geisteskranken auf der einen Seite, den Zweiten Weltkrieg auf der anderen –, wurde durch Gespräche mit einer Freundin meiner Mutter zusätzlich befeuert. Die inzwischen verstorbene Karnat Bruun hatte in Bad Kreuznach unter Professor Sauerbruch als Krankenschwester gearbeitet. Sie bestätigte nicht nur einige der Theorien, die mich seit einiger Zeit beschäftigten, sondern gab ihnen sogar neue Nahrung.
Unter dem Sternenhimmel erzählte ich im Sommer 1987 meiner Frau die Geschichte, die ich mir überlegt hatte. Schon damals bewunderte ich Schriftsteller, in deren Werk gründliche Recherche und literarisches Können eine untrennbare Einheit bilden, hatte jedoch erheblichen Respekt vor diesem Unterfangen. Meine Frau aber glaubte, es sei den Versuch wert, sobald die Zeit dafür
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