Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
eigentlich regelmäßig mit zu Familienfesten.« Sie lächelte in sich hinein und strich James zärtlich über den Handrücken. Er sah noch immer starr zum Fenster hinaus. »Manchmal durfte er sogar auf den Auslöser drücken.«
Bryan kniff die Augen zusammen und sah sofort das unscharfe Bild von Gisela vor sich, das erste Foto, das Mariann Devers ihm neulich gezeigt hatte. Der Fotograf war nicht sonderlich erfahren gewesen. Bryan ließ sich unsanft in seinen Sitz fallen.
Bridget ließ den Blick von ihm zu Laureen und wieder zurück wandern. Sie wollte sich gerade einmischen, als es von draußen ans Fenster klopfte.
»Erich!«, rief Mariann Devers ihm vom Bahnsteig aus zu. Träge sah James zu ihr und bemühte sich, ihr Lächeln zu erwidern. »Fast hätte ich es vergessen! Das hier gehört doch bestimmt dir, oder?« Sie nestelte an den vielen Tüchern herum. »Seit Jahren schon laufe ich damit herum. Ich hab’s Kröner weggenommen. Er gab immer damit an, dass er es dir einmal gestohlen hatte. Ich hab’s dann immer gerne getragen, wenn er in der Nähe war. Habe mich prächtig amüsiert. Und er hat’s nie gemerkt.« Sie warf das Tuch durch das offene Fenster, lächelte Petra noch einmal zu und machte dann auf dem Absatz kehrt.
»Merkwürdige Person«, kommentierte Bridget und schaute verständnislos auf das Tuch, das gerade hereinsegelte. James sah es an. Das blaue Tuch war dünn und verschlissen. Es hatte eine Borte am Rand und ein aufgesticktes Herz in einer Ecke. Vorsichtig hob er es auf und hielt es so behutsam in den Händen, als handele es sich dabei um etwas unendlich Zerbrechliches.
68
DER WINTER WAR noch nicht vorbei. Auf den letzten Kilometern bis zum Haus hatte Laureen unverwandt besorgt auf die Straße gesehen. Bis jetzt war die Fahrt kein Vergnügen gewesen.
»Müssen wir wirklich, Bryan?«, fragte sie nun schon zum vierten Mal.
»Ich muss, ja. Du kannst immer noch abspringen.« Bryan streckte kurz die Finger und schloss sie dann wieder eng ums Lenkrad.
»Wie können wir uns sicher sein, dass er nicht wieder gewalttätig wird?«
»Das haben wir doch alles besprochen, Laureen. Es ist vorbei.«
»Ich weiß, dass wir darüber gesprochen haben. Aber können wir uns auch wirklich sicher sein?«
»Petra sagt ja, und der Arzt bestätigt es.«
Laureen seufzte. Bryan wusste genau, dass sie sich seit vier Monaten vor dem Wiedersehen mit James fürchtete.
Seit dem Tag, an dem sie wieder nach Hause gekommen waren.
»Ich bin froh, dass er nicht in Canterbury wohnen wollte, sondern in Dover«, fuhr sie fort.
»Ich weiß, Laureen.« Bryan beobachtete die einmündenden Nebenstraßen. Der Verkehr ließ langsam nach. Sie mussten bald da sein. Er war nicht zum ersten Mal in der Gegend, aber es war nicht gerade der Teil von Dover, in dem er sich am besten auskannte. »Warum hätte er sich denn auch in Canterbury niederlassen sollen?«, sprach er weiter, ohne Laureen anzusehen. »Sein Elternhaus gibt es nicht mehr. Seine Eltern und Jill sind tot. Und seine Schwester Elizabeth lebt in London.«
»Warum er sich in Canterbury hätte niederlassen sollen?« Sie wischte über die beschlagene Beifahrerscheibe. »Das kann ich dir sagen.« Bryan konnte ihren Blick spüren. »Weil
du
in Canterbury lebst.«
Bryan lächelte. »Das scheint ihm aber nicht besonders wichtig zu sein, Laureen.« Hinter dem Dunst lagen dicke Wolken, die von der Steilküste und dem Ärmelkanal kündeten. »Petra sagt, dass er nie von mir spricht.«
Laureen blickte auf ihre Hände, von denen man ihre Verfassung ablesen konnte. »Wie geht es ihm eigentlich?«
Bryan zuckte mit den Achseln. »Die Ärzte meinen, das vernarbte Gewebe im Gehirn, das man auf den Scans sehen konnte, könne von mehreren kleinen Schlaganfällen herrühren. Das würde mich nicht wundern.«
»Was meinst du damit?«
Bryan sah einen Menschen vor sich, der starren Blickes regungslos in seinem Bett lag, gezeichnet von Elektroschocks und Tabletten, von den Schikanen seiner Mitpatienten, von Isolation und der täglichen Angst um sein Leben. »Es gab da so vieles … Aber in erster Linie denke ich an die Bluttransfusionen, die man ihm gegeben hat. Dass er die überhaupt überlebt hat, begreife ich bis heute nicht.«
»Und wie geht es ihm jetzt?«
»Den Umständen entsprechend. Petra sagt, er macht Fortschritte!«
Sie holte tief Luft. »Das ist ja beruhigend. Auch wenn man bedenkt, wie viel du dich seine Behandlung kosten lässt.« Sie schürzte die Lippen und kniff die
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