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Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus

Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus

Titel: Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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mit einem höheren Rang sollten wieder einschätzen können, warum sie das tun sollten.
    Nur von den Patienten in diesem besonderen Krankenzimmer wurde mehr erwartet.
    Oberarzt Manfred Thieringer war deshalb schon zweimal zu einem Gespräch mit dem zuständigen Gauleiter gebeten worden. Der hatte ihm dringend nahegelegt, brauchbare Ergebnisse nachzuweisen.
    Man machte ihn darauf aufmerksam, dass dem Oberkommando am Wohlergehen gewisser Offiziere sehr gelegen sei und dass er persönlich zur Verantwortung gezogen würde, falls es diesen verdienstvollen Soldaten nicht binnen angemessener Zeit besser ginge.
    Wenn Thieringer diese »verdienstvollen« Patienten inspizierte, die ihre eigenen Pantoffeln immer noch nicht von denen des Nachbarn unterscheiden konnten, zwirbelte er immer gerne seinen Schnurrbart und zitierte gegenüber seinen Untergebenen die Ermahnung von oberster Stelle. »Aber eine Kur istnun mal eine Kur«, pflegte er zu sagen. Da konnte selbst Himmler sagen, was er wollte.
     
    Mit jeder Woche, die verging, war James weniger Herr seiner eigenen Gedanken. Erst verschwanden die Details, die seiner gedanklichen Flucht die Würze und den Personen in seinen Geschichten ihre Lebendigkeit gaben. Und als ihm dann auch die Handlungen mehr und mehr entglitten, begann er, seinen geistigen Verfall selbst zu spüren.
    Unzählige Male hatte James erwogen, die Tabletten nicht zu nehmen. Diese nach Chlor schmeckenden Präparate machten ihn völlig apathisch, andererseits wusste er nicht, ob er das Leben sonst überhaupt noch ertragen würde. Doch ließ er die Tabletten auf den Fußboden fallen, war das Risiko sehr groß, entdeckt zu werden. Es wurde täglich sauber gemacht. Nahm er die Pillen mit auf die Toilette und wurde dabei erwischt, waren die Konsequenzen absehbar. Viele andere Möglichkeiten gab es nicht.
    Aber dann war da ja auch noch Petra.
    Denn genau genommen war Schwester Petra der Grund, warum er sich nicht bemühte, den Schluckvorgang aufzuhalten, wenn sie ihm vorsichtig die Tabletten auf die Zunge legte.
    Sie kam ihm dabei mit ihrem Gesicht immer ganz nahe. Ihr Atem war so süß und feminin. James war zutiefst verwirrt. Denn Petra gehörte doch zum Feind   – sie war aber auch seine Wohltäterin und Erlöserin. Um sie nicht in Schwierigkeiten zu bringen, musste er die Pillen schlucken.
    Solange die Dinge so standen, kam eine Flucht nicht in Frage. James fühlte sich wie gelähmt. Denn die ganze Zeit über bestand auch das Risiko, dass die Simulanten etwas bemerkten. Sie kannten kein Erbarmen und hatten schon zweimal zugeschlagen. Das erste Mal, als Kröner seinen Bettnachbarn erstickte, um in dessen Bett zu kommen.
    Das zweite Mal war noch keine Woche her.
     
    Ein neuer Patient, der nicht nur ein Loch im Bein hatte, sondern auch einen echten Kurzschluss im Gehirn, war von einer gewöhnlichen Krankenstation hierher verlegt worden. Er lag den lieben langen Tag im Bett neben dem Kalendermann und seufzte.
    Als Vonneguts Radio von der Westfront ernste Entwicklungen verkündet hatte, war der einarmige Pfleger sofort zum zweiten Assistenzarzt gelaufen, der seinerseits die Papiere auf das nächstbeste Bett warf und Vonnegut in den Aufenthaltsraum folgte. Die Gerüchte waren bis zum Abend durch immer neue Mitteilungen bestätigt worden. Und weil die Krankenschwestern und die Träger natürlich darüber sprachen, kamen sie bald auch den Patienten auf der Station zu Ohren.
    »Die sind in Frankreich gelandet!«, hatte Vonnegut irgendwann gerufen. James war zusammengezuckt. Bei der Vorstellung, dass die alliierten Truppen nur wenige hundert Kilometer von ihnen entfernt kämpften, kamen ihm die Tränen. Das müsstest du wissen, Bryan!, dachte er. Vielleicht könntest du dich dann etwas entspannen. Aber Bryan war noch versunken in den Folgen der letzten Schocktherapie.
    Als James gerade den Kopf zur Wand drehen wollte, steigerte sich der neue Patient ihm schräg gegenüber in einen Lachanfall hinein, bis Kröner in James’ Nachbarbett die Decke zur Seite schob, sich langsam aufrichtete und den Neuen anstarrte. Als James fühlte, dass Kröners Blick auch auf ihm ruhte, wurde ihm abwechselnd heiß und kalt. Der Lachanfall endete abrupt. Doch Kröner blieb stehen.
    Während der nächsten Tage bewachten die Simulanten abwechselnd den Neuen. Wenn er gefüttert wurde, wenn er auf dem Schieber saß, wenn sein Verband gewechselt, sein Leib mit Desinfektionsmitteln abgewischt wurde. Die Simulanten hielten die ganze Zeit Wache.

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