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Das alte Kind

Das alte Kind

Titel: Das alte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoe Beck
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Sonnenschein wie auch in Nebel und Regen. Er liebte das Grenzgebiet, mochte die Ambivalenz der Region. Der Süden Schottlands, der für die Highlander schon fast England war, der Nordosten Englands mit seinen eigentümlichen Dialekten, der für Engländer südlich des River Hull schon fast barbarischstes Schottland war. Northumbria, wie die Gegend einst hieß, reichte in seiner größten Ausdehnung von Sheffield bis Edinburgh. Davor und danach war sie immer wieder Grenzgebiet gewesen: Ben fuhr an dem Schild vorbei, das ihn über die englisch-schottische Grenze informierte, und in etwa einer Stunde würde er den Hadrian’s Wall passieren, 200 Jahre lang die nördlichste Begrenzung des römischen Reichs in Britannien, bevor Antonius versucht hatte, die Lowlands zu unterwerfen. Es war bei dem Versuch geblieben.
    Ben wusste nicht, als was er sich bezeichnen sollte. Seine Heimat hatte er immer hinter sich lassen wollen, und doch wohnte er im Grunde sehr nah dran. Hatte zu nah an zu Hause studiert, um frühzeitig die Fesseln zu sprengen, lebte jetzt in der englischsten aller Städte Schottlands. Fragte man ihn, woher er kam – diese Frage kam immer wieder auf, weil er seinen Akzent so weit neutralisiert hatte, dass eine eindeutige Zuordnung kaum mehr möglich war –, dann antwortete er vage lächelnd: »Irgendwo aus der Gegend.« Er klang weder nach Arbeiterklasse, aus der er eigentlich kam, noch klang er allzu posh, wie es sich einige seiner Schulkameraden gerne zu eigen gemacht hatten, um ihre Herkunft zu verschleiern. Ben klang einfach neutral. Nicht einzuordnen. Ambivalent.
    Er hatte seine Eltern kurz angerufen und gesagt, dass er kommen würde, dass er eine Weile bleiben müsste, bis er ein Zimmer gefunden hatte. Seine Mutter war am Telefon gewesen. Sie hatte mit ihm gesprochen, als hätte es nie eine eisige Zeit des Schweigens gegeben. Sie war gewesen wie immer: kurz angebunden und einzig auf die praktischen Dinge aus. Soll ich schon die warme Bettwäsche aufziehen, bist du schon zum Mittagessen da, was willst du essen.
    Vorbei an Newcastle und Gateshead. Industrieschornsteine und dicht besiedelter Großstadtraum. Die Attraktion: der Angel of the North, eine zwanzig Meter hohe Stahlskulptur in Rostrot. Flügelspannbreite: fünfzig Meter. Durch den Engel verursachte Auffahrunfälle im ersten Jahr, nachdem man ihn aufgestellt hatte: massenhaft. Vorbei an Washington und Sunderland, bis die Siedlungsdichte etwas nachließ, bis das Meer etwas näher war, bis er in Easington ankam, dem Ort, an den er nie hatte zurückkehren wollen. Nicht einmal für kurze Zeit. Aber es war anders gekommen.
    Kurz nach zwölf parkte er vor dem Reihenhaus seiner Eltern in Easington Colliery, einer ehemaligen Minenarbeiterstadt. Sein Elternhaus war ein heruntergekommenes Backsteingebäude, zuletzt umfassend in den 1970ern renoviert. Seit die Mine Anfang der 1990er Jahre geschlossen worden war und sein Vater und sein ältester Bruder John ihre Jobs verloren hatten, lebten seine Eltern von Sozialhilfe. Seine Mutter hatte noch nie gearbeitet, abgesehen von dem Geld, das sie sich durch Putzjobs bei den Bessergestellten dazuverdient hatte, die in Easington Village in freistehenden Häusern mit schmucken Gärtchen lebten. Sein Vater hütete seit über fünfzehn Jahren die Couch. Der mittlere Bruder, Steve, hatte Autome chaniker gelernt und als Aushilfskoch in diversen Pubs im County Durham gejobbt, bevor er dem Vorbild des großen Bruders gefolgt war und sich vom Staat finanzieren ließ. Keiner seiner Brüder hatte einen qualifizierten Schulabschluss. Beide hatten Kinder von verschiedenen Frauen. Ben hatte den Überblick verloren, wer mit wem welchen Nachwuchs hatte, denn es war nicht ungewöhnlich, dass der eine mit der Frau des anderen schlief. John und Steve lebten beide ebenfalls in Easington Colliery, in ebenso heruntergekommenen Reihenhäusern wie ihre Eltern, und füllten ihre Tage mit Fernsehen und Pub-Besuchen. Sie würden heute ebenfalls zum Mittagessen kommen, das wusste Ben. Sie würden beide eine Frau mitbringen, vielleicht das ein oder andere Kind, und Ben würde es nicht wagen, nach den Namen der Kinder zu fragen oder ob er mit ihnen verwandt war.
    Was hatte ihn bloß geritten hierherzukommen, statt sich gleich ein Zimmer zu suchen.
    Seine Mutter stand in der Küche und zerkochte Huhn, Kartoffeln und irgendetwas, das noch beim Einkauf als Gemüse durchgegangen war.
    »Geh rein, und setz dich, bevor keine Stühle mehr da sind«,

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