Das alte Kind
eingeladen, um ihnen die Labors zu zeigen, und er hatte sich öffentlichen Podiumsdiskussionen gestellt, war in Talkshows aufgetreten, hatte sich bei einigen Veranstaltungen sogar klaglos mit faulem Obst bewerfen lassen.
Andrew Chandler-Lytton war dreiundsechzig Jahre alt, seine Frau Shannon neunundvierzig. Sie hatten zwei Töchter, Alexandra und Anna. Alexandra, mit fünfundzwanzig die Ältere der beiden, hatte in Stanford in Biologie promoviert, arbeitete als Dozentin an der Universität und heiratete in Kürze. Anna, neunzehn, studierte in Toronto Physik. Die Mädchen hatten von beiden Seiten die Begabung für Naturwissenschaften geerbt. Chandler-Lytton war Mediziner, seine Frau Shannon Gynäkologin. Ihre Praxis hatte sie in Hammersmith. Chandler-Lytton lebte hauptsächlich auf einem Anwesen im Osten der Stadt Durham, nicht weit vom Cricket-Club entfernt. Die Ehe von Andrew und Shannon kam ohne Skandale aus. Einzig ihre Tochter Anna taugte der Yellow Press: Sie trank viel und gern, ließ keine Party aus, hatte eine Vorliebe für die Underground-Szene und vor allem für junge Frauen in Lack und Leder. Für einen Skandal reichte es nie, da sich die meisten Blätter aufgeschlossen und liberal gaben. Aber Anna war fotogen, ihre jeweiligen Freundinnen ebenso, und die Magazine mussten gefüllt werden.
»Dieser Mann hat ein Geheimnis«, hatte Cedric Darney, Herausgeber des Scottish Independent, vor zwei Wochen zu seinem ehemaligen Gerichtsreporter gesagt, »und Sie werden es herausfinden.« Er war für dieses Gespräch extra nach Duddingston in Bens Wohnung gekommen. Wenn Cedric das Haus verließ, musste es sich um etwas Wichtiges handeln. Und Agoraphobie war nur eine von Cedrics Geißeln.
»Warum ich?«, wollte Ben, zugegebenermaßen etwas trotzig, wissen und reichte Cedric, der im Türrahmen zur Küche stehengeblieben war, eine noch verschlossene Flasche Mineralwasser. Ohne Glas. Ben hatte keine Geschirrspülmaschine. Und Cedric würde eher verdursten, als aus einem von Hand gespülten Glas zu trinken. Er nickte Ben zu und nahm die Flasche. Seine dünnen Lederhandschuhe behielt er an.
»Vielleicht, weil Sie sich lange genug selbst auf hohem Niveau leidgetan haben und damit mittlerweile sogar mir auf die Nerven gehen?«
Wenn das kein Argument war. Cedric Darney, ungekrönter König der Sichselbstleidtuer auf höchstem Niveau. Wenn der schon kein Verständnis mehr für Ben hatte, dann war es wirklich an der Zeit, etwas zu unternehmen.
Vor einigen Monaten hatte Ben, damals noch Gerichtsreporter beim Scottish Independent, seine Kompetenzen völlig überschritten und so einen Pharmaskandal aufgedeckt, was ihn über Nacht als investigativen Journalisten berühmt gemacht hatte. Auch die Klage der Firma, die nachkam, konnte ihm nichts anhaben. Aber dann hatte er zu lange gezögert, hatte nicht gewusst, ob er nach London gehen sollte oder sogar nach New York. War nachdenklich geworden und hatte gar nichts mehr gemacht, außer sich selbst leidzutun, weil ihm alles zu viel war. Dabei hatte er immer nur darauf hingearbeitet: Titelstory. Investigativer Journalismus. Genau sein Ding. Oder doch nicht? Er hatte sich und andere in Lebensgefahr gebracht. Vielleicht war es das, womit er nicht klarkam. Behauptete jedenfalls seine Freundin Nina. Fiona, die er ausgerechnet in dieser ziellosen Zeit kennenlernen musste, hatte eine ganz andere Diagnose gestellt: Was bleibt übrig, wenn plötzlich der größte Traum wahr wird?
»Sind wir doch mal ehrlich«, riss Cedric ihn aus seinen Gedanken. »Die Angebote, die Sie im letzten Jahr noch hatten, stehen nicht mehr. Und Sie wollten diese ja auch gar nicht annehmen, weil…wie lautete noch mal Ihre Ausrede? Sie hatten Angst, viel Geld dafür geboten zu bekommen, dass Sie Prominente mit he runtergelassener Hose am Straßenstrich aufspüren müssen.«
»Oh bitte. Was soll ich denn sonst denken, wenn mich News of the World und The Sun wollen? Die wollten sicher nicht, dass ich für die eine Literaturkolumne schreibe.«
»Und was bleibt Ihnen jetzt noch? Lokalzeitung? Jahrestreffen des Golfclubs? Sie sind seit einem Jahr draußen und haben nichts mehr gemacht. Sie sind eine Eintagsfliege. Tut mir leid.«
»Aber Sie haben jetzt eine Story für mich?« Ben schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich das will.«
»Was wollen Sie denn? Kellnern, wenn Ihnen das Geld endgültig ausgegangen ist, und allen Menschen, denen Sie begegnen, erzählen, was für tolle Angebote Sie einmal hatten? Was
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