Das alte Kind
getrennt, aus medizinischen Gründen. Nach einer Woche sieht sie ihr Kind wieder und stellt fest: Es hat sich verändert.«
»Weil es nicht ihr Kind ist«, gab Carla zurück.
»Nein. Warten Sie. Das Kind hat eine Krankheit, die im Alter von sechs Monaten erste Anzeichen erkennen lässt. Zu diesem Zeitpunkt sind es noch subtile Veränderungen für einen Außenstehenden. Aber für die Mutter sind sie klar und deutlich. Und diese Veränderungen machen der Mutter Angst. Instinktiv weiß sie: Mein Kind ist krank. Ihr Instinkt sagt ihr noch etwas, und ich merke an dieser Stelle an, dass die Natur des Menschen viel grausamer ist, als wir uns eingestehen wollen. Ihr Instinkt sagt ihr also: Dieses kranke Kind will ich nicht. Ich will ein gesundes Kind. Und der menschliche Verstand macht daraus: Dieses Kind ist nicht meine Tochter.«
Carla starrte den Arzt an. Sie brauchte eine Weile, um Worte für das zu finden, was in ihr vorging. »Sie sind der Wahnsinnige von uns beiden«, sagte sie endlich. »Ich würde doch nicht herumrennen und behaupten, dass ein Kind nicht mein Kind ist, nur weil es krank ist! Das ist doch absurd!«
»Manchmal spielt uns der Verstand einen Streich. Wir sind dann felsenfest von etwas überzeugt, weil wir daran glauben wollen.«
»Sie sind verrückt. Lassen Sie mich in Ruhe. Gehen Sie.«
Abwehrend hob er die Hände. »Frau Arnim, wie gesagt, es ist nur ein Gedankenspiel. Wir, also der Kollege von der Psychiatrie und ich, wir würden uns sehr freuen, wenn Sie sich wenigstens für einen Moment auf diese Möglichkeit einlassen könnten. Spielen Sie diese Gedanken doch einmal für sich durch, und lassen Sie mich wissen, was Sie…«
»Gehen Sie. Ich glaube nicht, dass ich Sie wieder aufsuchen werde. Wir finden schon einen anderen Arzt, der sich um Fliss kümmert. Gehen Sie.«
Eine Minute lang war es still in der Bibliothek. Keiner der beiden be wegte sich, sie wagten kaum zu atmen. Dann endlich stand Dr. Bartholomay leise auf und ging ohne ein weiteres Wort.
Carla blieb noch eine Weile regungslos sitzen. Sie starrte auf die Bücherwand am anderen Ende des Raums. Die Strahlen der Abendsonne drangen durch die leeren Äste des Apfelbaums und spielten mit dem weichen roten Perserteppich. Staubkörner tanzten in den Lichtbalken. Und dann war ihr, als bliebe die Zeit stehen, als verlangsamten sich die Staubkörner bis zum Stillstand, als hörten die Äste des Apfelbaums auf, sich sacht im Wind zu bewegen. Mit größter Willenskraft hob Carla eine Hand an ihren Hals und fühlte das Blut in ihrer Schlagader pulsieren. Um sie herum fing alles wieder an zu leben.
Die Bibliothek war Carlas Reich, ihr Arbeitszimmer. Sie war vollgestopft mit Kunst- und Bildbänden, mit Literatur, unzählige Bücher stammten aus den Jahren, die ihre Eltern in den USA gelebt hatten, wo Carla auch geboren worden war. Nichts hier war Frederik. Er besaß sein eigenes Reich, sein Musikzimmer im zweiten Stock. Es war mehr ein Atelier als ein Zimmer, sie hatten es eigens für ihn umbauen lassen, damit sein Flügel zur Geltung kam, damit die Akustik stimmte, damit genug Licht von allen Seiten durch große Fensterwände auf Tastatur und Noten fiel. Wenn Frederik da war, füllte er das ganze Haus mit Klängen, während sie sich in die Bibliothek zurückzog, wo niemand sie störte und aus der niemals ein Laut zu hören war. Vielleicht war das ihr Problem. Vielleicht war sie zu leise.
Was Dr. Bartholomay ihr gesagt hatte, war ihr nicht fremd gewesen. Aber es konnte, es durfte nicht sein. Was bedeutete es, wenn er recht hatte? Wenn sie sich gegen dieses Kind wehrte, weil sie nicht akzeptieren wollte, dass sie ein krankes Kind geboren hatte? Es bedeutete, dass sie tatsächlich verrückt wäre und nicht mehr unterscheiden konnte zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Es bedeutete, dass das arme kranke Kind, für das sie keine Gefühle außer Mitleid entwickeln konnte, ihre Tochter war. Es bedeutete, dass sie Felicitas längst aufgegeben hatte.
Es konnte, es durfte nicht sein.
4.
Drei Stunden Autofahrt, und er würde nach langer Funkstille seine Familie wiedersehen. Ben entschied sich gegen die A1, die an der Küste entlangführte. Von der Nordsee würde er in den nächsten Tagen noch genug zu sehen bekommen. Außerdem mochte er die Strecke über Land, vorbei an den Lammermuir Hills, dann, hinter Jedburgh, hinter der englisch-schottischen Grenze durch den Northumberland National Park, eine Gegend von atemberaubender Schönheit, bei
Weitere Kostenlose Bücher