Das alte Kind
meldete sich schon nach dem zweiten Freizeichen eine Frau am anderen Ende der Welt.
Carla sprach fließend amerikanisches Englisch. In wenigen Sätzen brachte sie ihr Anliegen hervor.
»Mein Mann wollte Sie auch schon anrufen«, sagte Mrs Ingram zu Carlas Erstaunen.
Eine Minute später war Dr. Ingram persönlich am Apparat.
»Ich will Ihre Tochter untersuchen. Im Moment habe ich noch fünf weitere Kinder, die am Hutchinson-Gilford-Syndrom leiden. Ein Junge lebt in Frankreich, er ist vierzehn Jahre alt. Wissen Sie schon viel über die Erkrankung?«
»Ich habe heute erst davon erfahren«, sagte Carla.
»Dann habe ich Ihnen eine Menge zu erzählen. Passt es Ihnen Anfang Januar?«
Er hatte die Berlinreise schon fest eingeplant, seit er die Fotos von Fliss in der Hand gehalten hatte.
»Es passt.« Triumphierend legte Carla den Hörer auf. »Dr. Ingram wird sich um Fliss kümmern.«
Frederik sah sie hilflos an. Sie wusste, er wartete auf Absolution, auf ein erlösendes Wort von ihr, um sich aus allem raushalten zu können. Aber sie tat ihm den Gefallen nicht.
»Wir haben beide diese Verantwortung«, sagte sie.
»Natürlich, natürlich, sie ist meine Tochter, und…«
Sie machte eine Bewegung mit der Hand, die ihn zum Schweigen brachte. »Bist du im Januar da?«
»Wir sind nicht da, wir wollten nach Graz. Mein Neujahrskonzert…Eine Woche bei Peter und Miriam bleiben…und danach zwei Wochen Wien, und dann ist die Mozartwoche in Salzburg…«
»Mozartwoche in Salzburg! Du hast dich noch nie für Mozart interessiert!«
Er öffnete den Mund und sah aus wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Dann hab ich eben meine Meinung geändert«, brachte er endlich heraus.
»Ich wusste nicht, dass du so verzweifelt bist.«
»Wieso verzweifelt?«, fragte er pikiert.
»Du biederst dich mit Mozart an? Läuft es so schlecht?«
»Es läuft hervorragend! Ich kann doch ruhig auch mal in Salzburg…«
»Du willst nur nicht zu Hause sein, richtig?«
Seine Augen irrten durch den Raum, auf der Suche nach einer Ausrede. »Aber Wien ist wegen dir«, beeilte er sich zu sagen. »Du hast Termine in Wien. Dieser Galerist, wie heißt er gleich…«
»Ingram fliegt am siebten. Wir müssen dann wieder in Berlin sein. Am besten komme ich erst gar nicht mit nach Graz. Ich bleibe in Berlin. Du fährst alleine.« Sie ließ ihn stehen und ging in die Bibliothek.
Nachdem sie sich eine Liste gemacht hatte mit Dingen, die in den nächsten Tagen zu regeln waren, nahm sie ihr Adressbuch und fing an zu blättern. Während ihrer Schwangerschaft hatte sie Bekanntschaft mit einer englischen Ärztin gemacht. Wo war das gleich gewesen? Bei einer Ausstellung? Nein, bei einem Filmabend des British Councils. Sie erinnerte sich nicht mehr an den Film, aber sie erinnerte sich daran, dass sie ins Gespräch gekommen waren. Sie würde sie anrufen und sie bitten, bei dem Gespräch mit Dr. Ingram dabei zu sein. Als Frau vom Fach und, ja, vielleicht auch als Freundin. Warum nicht? Sie hatten sich gut verstanden, es lag fast zwei Jahre zurück oder etwas mehr als zwei Jahre, jedenfalls war Carla zu der Zeit mit Felicitas schwanger gewesen. Sie würde diesmal nicht denselben Fehler machen wie bei Ella. Sie würde ihr nicht anbieten, für ihre Unterstützung zu bezahlen. Nein, sie würde sie einfach fragen, ob sie ihr helfen konnte. Wie eine Freundin.
Endlich fand sie die Nummer. Doch als sie gewählt hatte, hörte sie nur: »Kein Anschluss unter dieser Nummer.« Wahrscheinlich lebte sie nicht mehr in Berlin, war zurück nach England gegangen. Kurz überlegte sie, ob sie versuchen sollte, die Frau über das British Council ausfindig zu machen, verwarf den Gedanken aber gleich wieder.
Wenn diese Krankheit wirklich so selten war, wie der Kinderarzt Dr. Bartholomay es ihr gesagt hatte, würde sich diese Ärztin auch nicht damit auskennen. Dr. Ingram war offenbar eine Koryphäe auf dem Gebiet, er schien ausreichende Forschungsgelder zur Verfügung zu haben, sonst könnte er nicht einfach so nach Deutschland reisen, um ein Kind zu untersuchen. Nein, sie brauchte keine zweite Meinung, sie brauchte eine Freundin, und die hatte sie nicht.
Das kam davon, wenn man immer die Starke, die Unnahbare gab. Und einen hilflosen Mann heiratete, weil man seine Entrücktheit so an ziehend gefunden hatte.
Sie stand auf, ging in der Bibliothek herum, schob die Stehleiter vor eines der hohen Regale, stieg hinauf und zog ein medizinisches Lexikon hervor. Darin las sie den mageren Eintrag
Weitere Kostenlose Bücher