Das alte Kind
gibt.« Das klang sehr abenteuerlich, aber sie schluckten es.
»Und wen?«, fragte John.
Diese Frage wollte er ungern wahrheitsgemäß beantworten. Er versuchte, vage zu bleiben. »Ihr habt doch die neuen Gebäude gesehen, die sie zwischen Easington und Peterlee an der Küste gebaut haben? Einer von den Chefs braucht einen Fahrer.«
»Soll er ein Taxi nehmen«, kicherte die Freundin von Steve, woraufhin sie von Steve und John angestarrt wurde. »’tschuldigung«, nuschelte sie, obwohl es keinen Grund gab, sich zu entschuldigen.
»Fährst du dann mit der Bonzenkutsche hier vor?«, wollte Steve wissen. Irgendwie interessierte er sich doch noch für Autos, war Bens Eindruck.
»Ich denke nicht, dass ich den Wagen mitnehmen darf. Aber das erfahre ich alles heute Nachmittag.«
»Der gnädige Herr erfährt es also«, machte sich John über ihn lustig.
Ben fiel absichtlich nicht in den Dialekt seiner Kindheit zurück. Nicht, um seine Brüder und Eltern zu provozieren, sondern einfach, weil er wusste, dass er den Graben zwischen ihnen nie mehr überwinden konnte. Wozu sich also noch Mühe geben.
Nach dem Essen machte er einen kleinen Spaziergang durch den Ort. Hier war der Film »Billy Elliot« gedreht worden, und seitdem behaupteten die lokalen Politiker, es gäbe Aufwind, Optimismus mache sich unter den Anwohnern breit. Die Wahrheit war, dass es nirgendwo in England so viele übergewichtige Menschen gab wie hier. In Sachen schlechte Ernährung, schlechte Gesundheit und schlechte Laune war Easington auf Platz 1. Die hohe Arbeitslosigkeit ließ die jungen Leute abwandern, und die, die blieben, ließen sich hängen. Die Alten waren von der Schufterei in der Mine kaputt. Von Optimismus war nichts zu sehen. Der Gang durch den Ort fiel kürzer aus, als Ben geplant hatte. Stattdessen setzte er sich in seinen Wagen und fuhr ein Stück vor bis zur Küste. Er stieg hinab zu dem einsamen Strand, setzte sich auf einen Stein, sah hinaus auf die Nordsee, lauschte den Wellen und dem Wind und den Möwen, bis die Sonne von grauen Wolken verdeckt wurde. Gleich halb vier. Zeit, sich seinem neuen Arbeitgeber vorzustellen.
»In Ordnung, wenn ich Sie Ben nenne?«
Die Frage war rhetorisch. Trotzdem antwortete Ben: »Selbstverständlich, Sir.«
»Wer drei Jahre lang für Cedric Darney gefahren ist…« Andrew Chandler-Lytton strahlte ihn an. Ben lächelte verhalten zurück. »Wie ist er so?«
»Sehr nett«, sagte Ben neutral.
»Sie bleiben diskret, das ist gut. Warum arbeiten Sie nicht mehr für ihn?«
»Hier bin ich näher bei meiner Familie.«
»Verstehe. Darney hat mir versichert, wie ungern er Sie gehen lässt, und behauptet, er würde Sie jederzeit wieder zurücknehmen. Das reicht mir als Referenz, seinen Vater können wir ja schlecht nach einem Zeugnis für Sie fragen.« Chandler-Lytton hob nur kurz den Blick, doch Ben zeigte keine Reaktion. »Schlechter Scherz, Sie haben recht. Fangen Sie gleich morgen an?«
»Wenn Sie wollen, heute schon.«
»Nein, der Wagen steht uns erst ab morgen Früh um sechs zur Verfügung. Sie finden ihn hier auf dem Gelände und können sich damit vertraut machen. Mich holen Sie bitte um halb neun zu Hause ab. Sie wissen sicher schon, wo das ist.« Andrew Chandler-Lytton nickte Ben zu. Der drehte sich mit einem höflichen Nicken um und verließ das riesige Büro, dessen Glaswand einen ungehinderten Blick auf die Nordsee zuließ.
Das Gebäude war vor fünf Jahren entstanden. Es war ein heller, freundlicher Bau, die großen Fenster gab es nicht nur im Chefbüro. Chandler-Lytton war vor zehn Jahren schon in die Führungsriege des Konzerns ImVac aufgestiegen, eines weltweit führenden Herstellers von Impfstoffen. Vor zwei Jahren konnte die Übernahme durch einen amerikanischen Konzern abgewendet werden, seitdem waren die Aktien gestiegen, und nicht einmal die Weltwirtschaftskrise hatte ihnen etwas anhaben können. ImVac war, Bens Recherchen nach, absolut sauber. Keine Skandale, nicht einmal Gerüchte gab es. Abgesehen von den üblichen Aufregern aus Tierschützerkreisen. Aber auch da blieb die ImVac-Weste blütenweiß: Einmal im Monat wurden sie kontrolliert, die meisten Besuche der Be hörden waren unangekündigt. Kein einziges Mal wurde auch nur der geringste Verstoß gegen die Vorschriften festgestellt. Chandler-Lytton hatte mit der Übernahme des Geschäftsführerpostens dafür gesorgt, dass die Tierversuche medienwirksam auf ein Minimum reduziert wurden. Er hatte Tierschützer zu sich
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