Das alte Kind
dann fühlte sie sich zu müde, und irgendwie war es ihr doch nicht mehr so wichtig. Roger sagte, es sei ein gutes Zeichen, dass sie so viel schlief. Außerdem müsste sich der Körper regenerieren. Sicher hatte er recht. Sie hatte so viel Blut verloren, sie brauchte diese Auszeit.
Nach ungefähr fünf Tagen bekam sie Durchfall, was mit ziemlicher Sicherheit an Mòrags nicht vorhandenen Kochkünsten lag. Fiona beschloss, einfach mal einen Tag lang nichts zu essen und nur Wasser zu trinken, und tatsächlich ging es ihr tags drauf deutlich besser. Sie setzte sich mit ihrem Laptop an den Schreibtisch und überlegte, welche Möglichkeiten es gab, das Leben eines Menschen nachzuvollziehen, der seit fast zwanzig Jahren tot war. Und dessen Spur sich von 1976 bis 1979 verloren hatte. Das Internet würde ihr wohl kaum weiterhelfen. Victoria hatte zwar eine Schwester, aber die hatte Fiona nie kennengelernt. Es hieß, die beiden hätten sich schon in den frühen Siebzigern so übel verkracht, dass sie nie wieder auch nur ein Wort miteinander gewechselt hätten. Nicht einmal zu Victorias Beerdigung war sie erschienen. Sie hieß Patricia, und da sie Fionas Wissen nach nie geheiratet hatte, trug sie noch ihren Mädchennamen: Garner. Alles, was sie über sie wusste, war, dass sie wie Victoria Medizin studiert und sich irgendwo im County Durham niedergelassen hatte. Sie würde heute Ende fünfzig sein. Die Chancen standen gut, dass sie noch immer praktizierte.
Fiona gab den Namen bei Google ein. Eine Minute später hatte Fiona eine Adresse in Darlington, einer Stadt etwa dreißig Kilometer südlich von Durham. Sollte sie ihr eine Mail schicken? Ach was. Sie wählte die Telefonnummer. »Dr. Garner hat heute keine telefonische Sprechstunde«, sagte eine junge Stimme, als Fiona bat, mit Patricia Garner verbunden zu werden.
»Ich bin keine Patientin. Ich bin ihre Nichte. Und es ist wichtig.«
Schweigen. Dann: »Ich glaube nicht, dass Dr. Garner eine Nichte…«
»Hat sie. Ich bin die Tochter ihrer verstorbenen Schwester. Bitte, es ist wirklich wichtig.«
Wieder Schweigen. Dann: »Und wie war noch mal Ihr Name?«
»Fiona Hayward. Fragen Sie sie wenigstens.«
Ein Stift kratzte über das Papier. Dann kam eine nervtötende Warteschleifenmusik. Fast wäre Fiona eingeschlafen.
»Hören Sie?«
Sie fuhr auf. »Ja. Ja, ich bin noch da.«
»Wann genau ist Ihre Mutter gestorben?«
»Am 15. September 1991. Durch einen Autounfall. Auf der A68 bei Ancrum.«
»Ah. Ja. Entschuldigen Sie, Miss Hayward. Hier gehen jeden Tag die merkwürdigsten Anrufe ein. Ihre Tante lässt Sie herzlich grüßen, aber sie kann jetzt unmöglich ans Telefon kommen. Sie hat einen Patienten. Sie fragt, ob Sie zufällig in der Gegend sind und sie besuchen möchten?«
Auch eine Möglichkeit. Mit so viel Offenheit hatte sie nicht gerechnet. Rasch ging sie im Geiste durch, wie sie nach Darlington kommen könnte. Aber sie fühlte sich dazu noch nicht in der Lage.
»Ich würde sehr gerne kommen. Aber ich bin…krank und noch sehr geschwächt.«
Schweigen. Diesmal hatte Fiona den Eindruck, dass die Sprechmuschel zugehalten wurde. Ihr Blick fiel auf den Adresseintrag im Internet, und erst jetzt sah sie Patricias Berufsbezeichnung: Psychiaterin. Okay. Das erklärte, warum die Sprechstundenhilfe etwas von merkwürdigen Anrufen gesagt hatte. Wahrscheinlich landete Fiona nun doch in der Rubrik »Gefährliche Patienten«. Schließlich: »Geben Sie mir Ihre Adresse und Telefonnummer.«
Fiona tat es.
»Morgen ist Samstag. Sind Sie dann zu Hause?«
Morgen also. Morgen würde sie die Schwester ihrer Mutter kennenlernen. Das Einzige, was von ihrer Mutter noch übrig war. Bis auf Fiona selbst. Sie spürte ihren Herzschlag bis in ihre Fingerspitzen, bis in ihre Zehen, so aufgeregt war sie.
Fiona päppelte sich am nächsten Morgen mit viel Kaffee und etwas Toast auf. Mòrag hatte ihr zwar ein großes Frühstück gemacht, aber das ließ sie stehen. Ihr Angebot, für sie einkaufen zu gehen, schlug sie aus. Sie wollte sich selbst um alles kümmern, sie fühlte sich stark genug dafür. Irgendwann ging ihr Mòrag mit ihrer Fürsorge so auf die angespannten Nerven, dass sie sie anschrie, woraufhin Mòrag beleidigt und Türen schlagend die Wohnung verließ. Es tat Fiona sofort leid, aber sie hatte keine Zeit, Mòrag nachzulaufen und sich zu entschuldigen. Sie schrieb ihr eine SMS und hoffte, ihre Freundin würde ihr diesen Ausraster nachsehen. Sie stritten sich selten, und sie hatten
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