Das alte Kind
Kochnischen, die die Frauen gemeinschaftlich nutzen konnten. Bücher standen zur Verfügung, auch Fernseher mit Videorecordern und einer Auswahl an Filmen. Die Fernseher hatten keine Antennen, sie empfingen kein aktuelles Programm. Es gab auch kein Radio, keine Illustrierten, keine Tageszeitungen. Die Frauen – und es waren ausschließlich Frauen –, die in dieser Klinik »Zuflucht« gefunden hatten, wie es die Ärzte gerne nannten, waren vom Tagesgeschehen abgeschirmt. Carla hatte herausgefunden, dass sie nicht die Einzige war, bei der man von einer gewissen Prominenz sprechen konnte. Im Zimmer zu ihrer Linken war eine bekannte deutsche Fernsehschauspielerin untergebracht, deren Pornofilmvergangenheit erst kürzlich von den Medien öffentlich gemacht worden war, und das einen Tag vor der Hochzeit der fast Vierzigjährigen. Kein Tag verging, an dem sie nicht perfekt geschminkt und mit einem gewinnenden Lächeln jeden Nachmittag um drei aus ihrem Zimmer rauschte, als erwarte sie, jede Sekunde fotografiert zu werden. Dann saß sie für zwei, drei Stunden in einem Sessel und las Thomas Mann. Carla hatte sie mehrfach beobachtet und festgestellt, dass sie die Romane immer nur willkürlich aufschlug und nicht wirklich darin las, eher blätterte.
Rechts von Carla »wohnte« schon seit über einem Jahr die Ehefrau eines Münchner Verlegers. Ihr Mann ließ sich einmal im Monat an einem Wochenende blicken, drei widerstrebende pubertierende Kinder im Schlepptau. Das waren die einzigen Gelegenheiten, zu denen sie ihr Nachthemd gegen ein teures Kostüm tauschte und sich das Haar wusch. Sonst bekam man sie fast nie zu Gesicht, es sei denn, man war gegen Mitternacht noch auf den Beinen. Dann huschte sie aus ihrem Zimmer, um sich einen Tee zu machen, manchmal auch, um sich ein Video anzusehen. Sie saß mit fettigem Haar, in einen ausgebeulten, verwaschenen Bademantel gehüllt, in einem der Sessel und sah sich vorzugsweise romantische Schnulzen in Schwarzweiß an. Normalerweise zog sich Carla zurück, wenn sie auftauchte, weil sie sie nicht stören wollte, aber einmal war sie sitzengeblieben, und sie hatten gemeinsam zugesehen, wie sich James Stewart um Katherine Hepburn bemühte. Die andere Frau hatte während des gesamten Films still geweint. Kein Wort gesprochen. Am Ende hatte sie die Videokassette in ihre Hülle zurückgesteckt und war grußlos in ihrem Zimmer verschwunden.
Carla vermutete, dass alle Frauen unter Einfluss von Medikamenten standen, so wie sie auch. Abends bekam sie eine Tablette, die sie tief und lang schlafen ließ. Sie träumte intensiver als sonst, bekam sogar Albträume, fühlte sich am Morgen aber meist so ruhig und ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Morgens wieder eine Tablette, die halbe Dosis, damit sie nicht zu müde wurde. Die Tage glitten sanft und ohne Aufregung an ihr vorbei. Von ihrem Zimmer aus hatte sie einen wunderbaren Blick über den Zuger See, und sie durfte jeden Nachmittag zusammen mit einer der Krankenschwestern einen langen, ausgedehnten Spaziergang durch die klare, reine Luft machen. Die Spaziergänge genoss sie am meisten, sie liebte die Stille der Gegend, sie liebte das Bergpanorama, und sie wusste nicht mehr, warum sie Berlin nur so ungern verlassen hatte.
Jeden Tag hatte sie ein Gespräch mit einem Therapeuten. Sie sprachen über ihre Kindheit, über ihre Eltern, manchmal auch über die Ehe mit Frederik. Über Felicitas sprachen sie nicht, Carla mied das Thema. Sie hatte Angst, man würde ihr etwas einreden, was sie nicht akzeptieren wollte. Diese Bedenken konnte sie schlecht äußern, man würde ihr Verfolgungswahn unterstellen. Freitags gab es so etwas wie eine Gruppentherapiesitzung, deren Teilnahme freiwillig war. Carla ging jeden Freitag hin, es war weniger Neugier auf die anderen Frauen als vielmehr Langeweile, die sie antrieb. Sie beteiligte sich nur selten an den Gesprächen, da sie nicht das Gefühl hatte, mit ihrem Anliegen weiter voranzukommen. Schließlich hatte sie kein psychisches Problem, sah man mal davon ab, dass die Ruhe und die Trennung von ihrer Familie ihr guttaten. Sie hatte ein sehr praktisches Problem, bei dem ihr hier niemand helfen konnte.
Selbst wenn düstere Gedanken kamen, verspürte sie kaum Nervosität. Panik war ihr fremd geworden, was sie auf die Tabletten zurückführte, die sie anfangs gar nicht hatte nehmen wollen, auf die sie nun aber nicht mehr verzichten mochte. Endlich, dachte sie, endlich kann ich mich ganz und gar auf Felicitas
Weitere Kostenlose Bücher