Das alte Kind
sich bisher noch jedes Mal wieder versöhnt.
Fiona wollte einen guten Eindruck auf Patricia machen. Entsprechend dezent kleidete sie sich: schlichte Jeans, eine dunkle Strickjacke über einer weißen Bluse, von der sie gar nicht gewusst hatte, dass sie sie besaß. Kein Make-up, die Haare zu einem einfachen Zopf gebunden. Als die verabredete Zeit näher rückte, war sie so aufgeregt, dass sie sich ärgerte, so viel Kaffee getrunken zu haben. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, sich an ihrem geheimen Diazepamvorrat zu bedienen, den sie sich – nicht ganz legal – verschafft hatte. Aber sie war froh darüber, sich endlich wieder so wach, so lebendig zu fühlen, dass sie ihre Wahrnehmung nicht gleich wieder dämpfen wollte. Kurz vor der verabredeten Zeit klingelte ihr Telefon. Es war Roger, ausgerechnet.
»Ich wollte hören, wie es dir geht. Soll ich dich heute besuchen?«
»Ich habe Besuch«, antwortete sie. »Ich kann jetzt nicht mit dir reden. Und danke, es geht mir gut, lass uns ein andermal sprechen. Vielleicht morgen.« Sie legte einfach auf. Roger konnte sie heute nun wirklich nicht auch noch brauchen.
Und dann klingelte es an der Tür. Patricia Garner war da.
»Nenn mich bloß nicht Tante«, sagte sie und lächelte.
Sie sah ganz anders aus. Fiona hatte mit einer Frau gerechnet, die große Ähnlichkeit mit ihrer Mutter Victoria hatte. Victoria war mittelgroß, schlank und dunkelhaarig gewesen, mit hellen Augen in einem oval geschnittenen Gesicht. Patricia war sehr groß, nicht mehr schlank, fast schon hager. Ihr Gesicht war beherrscht von hohen, hervorstehenden Wangenknochen, die ihr eine fremdartige Schönheit verliehen. Ihre Augen standen weit auseinander, und Fiona suchte vergebens nach einer Ähnlichkeit mit sich selbst. Patricia hatte ihr fast schwarzes Haar sehr kurz geschnitten und trug einen auffälligen roten Lippenstift. Sonst war sie ungeschminkt. Das Rot fand sich in ihrem Schal wieder, den sie lose um den Hals geworfen hatte. Sie trug weit geschnittene Stoffhosen und einen schlichten Pullover, beides in gedeckten Erdtönen. Kein Schmuck, nicht einmal eine Armbanduhr.
Anfangs war das Gespräch etwas schleppend. Sie beschnupperten sich, indem sie allgemeine Themen ansprachen. Das »Und was machst du so«-Geplänkel, wie beim ersten Date. Nach einer dreiviertel Stunde stellte Patricia endlich die erlösende Frage: »Aber du hast dich nicht bei mir gemeldet, weil du wissen wolltest, wie das Wetter so ist in Nordengland. Was kann ich für dich tun?«
Die Antwort hatte sie sich längst zurechtgelegt. »Ich will wissen, wer ich bin.« Sie erzählte davon, dass Roger nicht ihr richtiger Vater war. Dass es ein paar Jahre im Leben ihrer Mutter gegeben hatte, über die weder Roger noch sonst jemand, den er kannte, etwas wusste.
»Und du glaubst, dass ich dir die Antwort geben kann? Ich habe den Kontakt zu Victoria schon abgebrochen, da war ich noch im Studium.«
»Aber warum?«
Patricia zuckte die Schultern. »Sie hat mir den Freund ausgespannt, und das nicht zum ersten Mal. Nur, dass sie ihn diesmal auch noch heiratete.«
»Aber nicht Roger!?«, rief Fiona erstaunt.
Patricia lächelte. »Sie war hübscher als ich. Sie hätte andere Männer haben können, aber sie wollte die, die sich für mich interessierten. Ich habe bis heute keine Ahnung, warum. Und dann verließ sie Roger, weil sie mit ihm keine Kinder bekommen konnte. Nachdem das Thema Männer mehr oder weniger abgehakt und sie durch die Ehe ruhiger geworden war, gab es nur noch das Thema Kinder. Ich wollte nie Kinder. Mir wäre es egal gewesen, ob Roger welche bekommen konnte oder nicht. Aber sie musste ihn sich unbedingt nehmen und ihn so verrückt vor Liebe machen, dass es für ihn nie wieder eine andere geben konnte.« Patricia lächelte wieder, diesmal etwas traurig, aber sie wirkte nicht, als hätte Fiona alte Wunden aufgerissen.
»Das hat mir Roger nie erzählt«, sagte Fiona.
»Das wundert mich nicht. Mich wundert vielmehr, dass man mich überhaupt jemals erwähnt hat. Nachdem Victoria so viele Dinge gerne unerwähnt ließ und Roger ihr innerhalb kürzester Zeit absolut hörig war…«
»Hörig ist wohl ein sehr passender Ausdruck«, murmelte Fiona. »Aber was weißt du über die Jahre, in denen Roger und Victoria getrennt waren?«
Patricia sah sie lange an. »Über deinen richtigen Vater kann ich dir nichts sagen, aber über deine Mutter.«
»Ich weiß, wer meine Mutter ist. Ich kannte sie dreizehn Jahre lang«, sagte Fiona
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