Das alte Kind
entwickeln. Manchmal summte sie eine Melodie nach, besonders gut reagierte sie auf Mozart, den er nun immer öfter spielte. Er trainierte ihre Musikalität.
Kinder mit Progerie sind oft intelligenter als ihre Altersgenossen, hatte er von Carla erfahren. Sie wusste es von Dr. Ingram. Vielleicht wurde aus seiner Fliss ein musikalisches Wunderkind? Junior war nach wie vor eher an Technik interessiert. Und er zeigte bereits eine große Begabung für Mathematik. Auch Sprachen schien er leicht zu lernen, was sicher an der zweisprachigen Erziehung lag. Man sollte den Jungen im Ausland erziehen lassen. Er würde viel bessere Chancen haben. Die deutschen Schulen waren einfach nicht gut genug. Uppingham, dachte Frederik. Eine gute Schule. Er kannte einen Cellisten, der dort gewesen war, einen Schweizer. Er schwärmte noch heute von seiner Schulzeit in Uppingham als dem Schönsten, was er je erlebt hatte.
Am Abend, als Fliss schlief und Jeremy endlich die Bibliothek geräumt hatte, um sich in seine Räume zurückzuziehen, telefonierte Frederik mit dem Cellisten, und eine Stunde später hatte er seine Entscheidung endgültig gefällt. Frederik langweilte sich noch eine Weile vor dem Fernseher, beschloss dann, sich ein Buch aus Carlas Bibliothek zu holen. Als er sie betrat, fiel ihm als Erstes der veränderte Geruch auf. Natürlich roch Jeremy anders als Carla, aber dass der Raum Jeremys Geruch so schnell annahm, verwunderte ihn doch. Es war, als hätte der Kurator mit seinem Rasierwasser Duftmarken gesetzt. Frederik öffnete die Fenster, um die Abendluft in die Bibliothek zu lassen. Er blieb vor dem offenen Fenster stehen, atmete tief durch, lauschte den Nachtgeräuschen.
Sie fehlte ihm nicht. Er vermisste Carla nicht. Im Gegenteil, er empfand einen tiefen Frieden dank ihrer Abwesenheit. Die Villa war ihm so sehr ein Zuhause wie ein Hotelzimmer: Sie war ihm bequem und komfortabel, aber sein Herz hing nicht daran. Und offen gestanden hing sein Herz auch nicht mehr an Carla. Er forschte in seinem Gedächtnis nach der alten Carla, fand Erinnerungsfetzen, vermisste nicht einmal mehr die Gefühle, die diese Erinnerungen sonst ausgelöst hatten.
Sie ist weg, dachte er. Sie ist in mir verschwunden. Es gibt sie nicht mehr.
Statt Wehmut empfand er Erleichterung. Und fühlte sich kein bisschen schuldig.
Gerade als er die Fenster wieder geschlossen hatte, riss jemand die Tür auf. Jeremy.
Er hatte sein Notizbuch liegen lassen. Ein kleines schwarzes Büchlein, sagte er und wollte zum Schreibtisch gehen, um es sich zu nehmen, aber Frederik war schneller, er sprang zu dem Platz, an dem sonst immer seine Frau gesessen hatte, und nahm das Büchlein von der Arbeitsfläche, auf der sich früher einmal die Post seiner Frau gestapelt hatte. Ich bin immer noch der Hausherr, dachte er. Ich habe hier immer noch das Sagen. Schweigend reichte er Jeremy dessen Notizbuch.
Erst jetzt bemerkte Frederik, wie aufgeräumt der Schreibtisch war. Jeremy hatte Ablagekörbchen übereinandergestapelt und fein säuberlich beschriftet. Im Regal hinter dem Schreibtisch entdeckte er Akten ordner, die Jeremys unverkennbare Handschrift trugen. Nicht, dass Carla unordentlich gewesen wäre, aber zwischen ihr und Jeremys offenkundiger Pedanterie lagen immer noch Welten. Auf den Ordnern stand irgendwas von Einnahmen und Ausgaben und Steuern und Quartal. Frederik verstand nichts davon.
Wie gut, dass wir es gefunden haben, seufzte Jeremy. Ich dachte schon, ich hätte es verloren, aber dann ist mir eingefallen, dass es bestimmt noch auf meinem Schreibtisch liegt. Jeremy drehte sich mit einem kurzen Nicken um und rauschte aus der Bibliothek.
Sein Schreibtisch, dachte Frederik und ging zu den Fenstern, um sie zu schließen. Es geht so schnell, dass Menschen ihren Platz im Leben der anderen verlieren.
Selbst die größte Liebe verlor sich irgendwann, und man merkte es erst, wenn sie längst vorbei war.
8.
Sie hatte das Gefühl, nie richtig wach zu werden. Jeden Tag schlief sie fast achtzehn Stunden, und wenn sie die Augen öffnete, waren ihre Lider schwer wie Blei. Sie wusste nicht mehr genau, welcher Tag es überhaupt war. Manchmal war es draußen hell, wenn sie wach wurde, manchmal dunkel. Mòrag brachte ihr Essen und setzte sich an ihr Bett, um sich mit ihr zu unterhalten. Manchmal sahen sie sich Filme an, bei denen Fiona meist einschlief. Manchmal war ihr Vater da oder vielmehr Roger. Sie wollte ihn nach ihrer Mutter fragen, sie träumte so oft von ihr, aber
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