Das alte Kind
konzentrieren. Endlich bin ich mit meinen Gedanken ganz bei mir.
Und heute war Ella gekommen. Carla war so aufgeregt wie zuletzt vor mehr als zehn Jahren, als sie ihre erste Verabredung mit Frederik gehabt hatte. Freundschaften fielen ihr schwer, sie hatte keine Übung darin und war sich unsicher, wie sie Menschen begegnen sollte, die keine klar umrissene Funktion für sie hatten. Sie wusste nicht, was sie von Ella zu erwarten hatte, und da sie ihr nun kein Geld mehr dafür zahlte, sie bei der Suche nach Felicitas zu unterstützen, war sie vollkommen überfordert und gleichzeitig trotz ihrer Medikamente aufgeregt und gespannt, wie das Treffen verlaufen würde. Was machten Freundinnen? Worüber sprachen sie? Begann man das Gespräch mit den üblichen Höflichkeitsfloskeln?
Sie hätte sich keine Sorgen machen müssen. Ella übernahm die Führung. Sie umarmte Carla, es war das erste Mal, dass sie so etwas tat. Fragte sie, wie es ihr ging, ließ sich Carlas Tagesabläufe erzählen, erkundigte sich nach ihren Träumen, interessierte sich für die Filme, die sie gesehen, die Bücher, die sie gelesen hatte. Sie erzählte von sich, welche Fotos sie gemacht hatte, die schönsten hatte sie für Carla in einem Album zusammengestellt. Gemeinsam sahen sie sich die Bilder an, Ella erzählte, wie sie entstanden waren, was sie auf ihren Reisen erlebt hatte, wen sie kennengelernt hatte. Und obwohl sie nicht über Felicitas sprachen, obwohl sie nur heiter plauderten, fing Carla irgendwann an zu weinen. Sie hatte so lange nicht mehr geweint, es war ein fremdes Gefühl, aber es tat gut. Ella legte den Arm um ihre Schultern und führte sie in ihr Zimmer, wo sie sich aufs Bett setzten, bis Carla nicht mehr weinen musste.
Es war spät geworden, Zeit für Ella zu gehen.
»Ich bin für zwei Wochen in Zürich«, sagte sie, bevor sie sich verabschiedete. »Ich kann dich öfter besuchen, wenn du möchtest.«
Carla nickte dankbar, umarmte die Freundin von sich aus, und als sie wieder allein war, fühlte sie sich leerer als zuvor und doch von einer Wärme erfüllt, die sie lange schon vermisst hatte.
Berlin, April 1980
Jeremy ging ihm auf die Nerven. Er flatterte täglich durch das Haus, er wohnte jetzt dauerhaft in der Gästewohnung. Suchte Unterlagen in Carlas Bibliothek, suchte Bücher in Carlas Bibliothek, rümpfte die Nase, wenn er Frederik begegnete, löcherte ihn auch mit Fragen, und wenn er keine Fragen hatte, die Frederik sowieso nicht beantworten konnte, was ihm grundsätzlich eine verächtlich hochgezogene Augenbraue bescherte, dann musste er sich Jeremys Klagen über die schrecklichen Käufer, die schrecklichen Sammler, die schrecklichen Verkäufer, die schrecklichen Künstler anhören.
Warum war er bloß zu Fliss’ Geburtstag nach Berlin gekommen? Er hätte wegbleiben sollen. Aber er hatte erst wieder im Mai Konzerte, bis dahin hatte er nichts zu tun, es blieb ihm nichts anderes übrig, als da zu sein. Außerdem hatte es gute Presse gegeben, weil er sich so rührend um Fliss kümmerte:
So schön feiert der Starpianist mit seiner kleinen
Tochter Geburtstag!
Er brauchte solche Schlagzeilen. Eine Illustrierte hatte sogar zwei volle Doppelseiten darüber gebracht. Carla wollte er nicht besuchen, er schickte aber Junior zusammen mit Sally an den meisten Wochenenden in die Schweiz, damit der Junge seine Mutter sah. In dieser Zeit war er mit Fliss allein (abgesehen von Jeremy, aber der interessierte sich weder für ihn noch für Fliss). Jetzt waren Fliss und er wieder allein, was erstaunlich gut funktionierte. Das Kind war auf eine ruhige und entspannte Art fröhlich und auch sehr genügsam. Es beschäftigte sich still und unaufdringlich mit sich selbst, wenn Frederik für sich sein wollte, um Zeitung zu lesen oder sich etwas im Fernsehen anzusehen. Wenn er an seinem Flügel saß, lauschte sie andächtig, ohne ihn zu unterbrechen. Fliss war ein traumhaftes Kind. Oder sie wäre es, wenn sie nur nicht diese Krankheit hätte, die mit jedem Monat, der verstrich, deutlicher sichtbar wurde.
Trotzdem, oder gerade deshalb, berührte es Frederik tief, dass seine kleine Tochter so sehr in seinem Klavierspiel versank. Diese Selbstvergessenheit verloren die meisten Erwachsenen, weil sie keine Zeit mehr hatten oder keine mehr fanden, mit den Gedanken bei hundert Sachen gleichzeitig waren. Fliss war, wenn er spielte, einzig in der Musik, und je öfter er sie zuhören ließ, desto mehr Gefallen schien sie an seinem Spiel zu
Weitere Kostenlose Bücher