Das alte Kind
zurückkehren.
Entschlossen öffnete sie die Tür und ging den Gang entlang, die Treppe hinunter in den ersten Stock, wo die Ärzte und die Therapeuten ihre Zimmer hatten. Sie klopfte an die Tür ihres Therapeuten, wohl wissend, dass dieser freitags keine Sitzungen hatte, aber im Haus war, falls er benötigt wurde.
»Ich will nicht nach Hause, und ich will meine Tabletten wiederhaben«, eröffnete sie die Debatte.
Der Therapeut sah sie erstaunt an. »Ihr Mann hat mit uns besprochen, dass Sie spätestens im August nach Hause können.«
»Mein Mann?« Sie setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, ohne auf eine Aufforderung zu warten.
»Wollen wir das nicht lieber nebenan besprechen?« Der Therapeut erhob sich und öffnete die Verbindungstür zu dem Raum, in dem sie normalerweise ihre Sitzungen hatten. Er sah aus wie ein Wohnzimmer, mit bequemen Sesseln und der unvermeidlichen Couch, vielen Pflan zen und abstrakten Gemälden, einem riesigen Bücherregal mit Fachliteratur, aber auch mit Belletristik, obwohl sich Carla nicht vorstellen konnte, dass irgendjemand jemals in diesen Büchern las.
Sie nahmen in den Sesseln Platz. »Ihr Mann hat nicht mit Ihnen darüber gesprochen?«
Carla schüttelte den Kopf. »Er spricht kein Wort mit mir, seit ich hier bin. Das wissen Sie doch.«
»Wir haben schon länger nicht mehr über ihn gesprochen«, gab der Therapeut zu bedenken.
»Was hat er zu Ihnen gesagt?«
»Nicht zu mir persönlich, ich weiß es auch nur von Dr. Bengarz. Offenbar steht ein Umzug an, und da will er sie mitnehmen.«
Sie vergrub ihre Finger in den Sessellehnen und versuchte, ganz ruhig zu atmen. »Salzburg«, sagte sie endlich. »Ich muss aber nach Berlin zurück. Ich will wieder meine Tabletten.«
»Sie sind also nicht mit dem Umzug einverstanden.« Er nickte nachdenklich. »Sie haben damit gerechnet, in Ihre gewohnte Umgebung zu kommen. Glauben Sie, dass sie Ihnen guttun würde? Ihre gewohnte Umgebung?«
Carla zuckte die Schultern.
»Ein Umzug kann auch ein Neuanfang sein. Man wird nicht mehr an jeder Ecke an den Schmerz erinnert, den man…«
»Ich muss nach Berlin zurück«, unterbrach ihn Carla. Lange konnte sie sich nicht mehr zusammenreißen. Sie fing an, auf ihrer Unterlippe herumzukauen, und starrte auf ihre Füße. Mit den Fingernägeln der rechten Hand kratzte sie an ihrem linken Handgelenk herum.
»Wissen Sie was, ich werde so schnell wie möglich mit Ihrem Mann telefonieren und alles besprechen. Was halten Sie davon?«
»Was wollen Sie denn besprechen?« Sie konzentrierte sich auf ihre linke Fußspitze.
»Ob wir Ihren Aufenthalt hier nicht noch ein wenig verlängern können.«
»Ich will meine Tabletten zurück.« Ihr linker Fuß machte sich selbstständig und fing an zu wippen.
»Warum warten wir nicht das Wochenende ab und…«
Carla kam es vor, als würde sie sich selbst beobachten. Als stünde sie direkt neben sich, während dieses andere Ich aufsprang und dem Therapeuten ins Gesicht schlug.
»Ich! Will! Meine! Tabletten!«
15.
Wenn Fiona etwas hasste, dann war es warten zu müssen. Eine Woche, hatte Ben gesagt, eine Woche würde es dauern, bis sie ein Resultat von dem Testlabor hatten. Und das war schon die schnelle Variante, weil Patricia dort eine Mitarbeiterin kannte. Er hatte Haare von Andrew Chandler-Lytton und eine Speichelprobe von Fiona eingeschickt. Außerdem eine Speichelprobe von Patricia, was sie nicht ganz verstand, aber Ben hatte ihr gesagt: Nur zur Sicherheit. Von wegen mütterliche Seite genetisch abgleichen oder so was. Okay.
»Glaubst du, sie haben mich vertauscht?« Fiona fand den Gedanken unglaublich lustig. Sie lachte und lachte. Vertauscht im Krankenhaus, was für eine absurde Idee. Was kam noch? War sie vielleicht die Tochter von irgendeinem VIP? Ein Schauspieler vielleicht, ungefähr vom Kaliber eines Michael Caine. Mindestens. Oder ein Politiker. Nein, einen Politiker wollte sie nicht als Vater. Pffft – Politiker. Dann doch lieber einen Rockstar. Wer war denn im richtigen Alter? Einer von den Stones. Einer von den Beatles. Das wär’s. Das könnte sie sich gut vorstellen. Sie lachte und lachte.
Ben nahm sie in seine Arme, bis ihr Lachen in Weinen überging. Er hielt sie fest, bis sie sich wieder beruhigt hatte, dann ging er. Er würde wieder zu wenig Schlaf bekommen, sagte er, wieder eine Nacht, die er mit Autofahren verbrachte.
Fiona tat ihm zuliebe so, als hätte sie ein schlechtes Gewissen, ärgerte sich in Wirklichkeit aber
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