Das alte Kind
Befehl.
»Oh, natürlich, Sir.« Ben nahm es und reichte es nach hinten durch, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. »Ach, nein, jetzt stehen wir wieder an dieser Baustelle. Hoffentlich dauert’s nicht wieder so lange wie gestern«, murmelte er, während Chandler-Lytton in dem Fotoalbum blätterte.
Jetzt, da sie durch die Baustelle gezwungen waren zu halten, warf Ben einen langen Blick in den Rückspiegel. Diesen Blick durfte Chandler-Lytton ruhig bemerken. »Schon toll, was? Zwanzig Jahre in einem Buch, ich meine, das ist echt was wert.«
Chandler-Lytton blickte nicht auf. Er sah sich jedes Foto lange an, ganz so, als wollte er es für immer in sich aufnehmen. »Tori«, sagte er.
»Entschuldigung?«, fragte Ben.
Chandler-Lytton schwieg und blätterte weiter. Endlich sagte er: »Ich habe nichts gesagt.«
Der Verkehr rollte wieder, und Ben musste sich auf die Straße konzentrieren. Er hoffte, Chandler-Lytton würde es sich anders überlegen und noch etwas sagen, aber das tat er nicht. Er sah sich die Bilder an, Seite für Seite, und als er beim letzten Bild angelangt war, blätterte er sogar noch die leeren Seiten durch, wie um zu sehen, ob sich nicht doch noch irgendwo ein weiteres Foto versteckte.
»Es hört Anfang der siebziger Jahre auf, ich glaube, da haben sich die Schwestern zerstritten«, sagte Ben.
Chandler-Lytton reagierte nicht. Er blätterte nach vorn, bis er zu einem Porträt kam, auf dem sein Blick ruhen blieb. Sie standen schon eine gute Minute in Chandler-Lyttons Einfahrt, als er endlich das Album zuklappte und es Ben gab.
»Ich danke Ihnen, das war wirklich sehr interessant, dieses Album. Sagen Sie Ihrer Bekannten, sie soll es gut aufheben. Bleiben Sie sitzen, ich kann schließlich selbst ein- und aussteigen. Ich bin noch nicht vergreist.« Es klang ein wenig ärgerlich. Chandler-Lytton stieg aus und federte, die Aktentasche schwingend, die Einfahrt zu seinem Haus hinauf. Als er die Haustür aufschloss, hielt er eine Sekunde inne und spähte in Bens Richtung. Ben wollte schon aussteigen und fragen, ob etwas nicht in Ordnung sei, aber da war Chandler-Lytton schon in seinem Haus verschwunden.
Ben fuhr den Wagen zurück in die Garage von ImVac. Dort packte er das Album sorgfältig in eine Messenger Bag, die er immer bei sich trug. Dann öffnete er eine der hinteren Türen und fing an, mit einer nagelneuen Fusselrolle die Rückbank sorgfältig zu säubern.
Als er mit seinem eigenen Wagen in Easington Village vor Bradys Haus angekommen war, blieb er einen Moment sitzen und schlug das Album auf der Seite auf, die Chandler-Lytton am längsten betrachtet hatte.
Tori, hatte er gesagt. Victoria.
Privatklinik Dr. Bengarz, Kanton Zug, Juni 1980
Carla fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Ihre Hände zitterten. »Ich verstehe nicht, dass immer noch niemand geantwortet hat.«
»Dr. Kamp hat dir doch geschrieben«, sagte Ella sanft und legte einen Arm um Carlas Schultern. »Sag mal, ist dir kalt? Soll ich dir eine Jacke holen?«
Carla schüttelte den Kopf. »Es geht schon. Wir setzen gerade die Medikamente ab, aber in spätestens einem Monat kann ich wieder nach Hause. Warum hat denn niemand geantwortet?«
»Dr. Kamp hat…«, begann Ella.
»Dr. Kamp!«, fauchte Carla. »Der ist doch senil! Man sollte ihm die Praxis schließen! Und ist endlich diese Krankenschwester wieder aufgetaucht? Sie kann doch nicht nun schon seit Wochen krank sein.«
Ella schüttelte den Kopf. »Man sagte mir, sie hätte gekündigt.«
»Aber einen Namen hast du immer noch nicht?«
»Ich kann die Leute dort schlecht zwingen, mir…«
»Du bist genauso nutzlos wie alle anderen!«, rief Carla und warf sich auf ihr Bett. »Du steckst mit denen unter einer Decke!« Sie fing an zu schluchzen. Das hatte sie nicht sagen wollen. Ja, sie war verzweifelt und mit ihren Nerven am Ende, aber sie hatte nicht ihre beste, ihre einzige Freundin beleidigen wollen. »Entschuldige«, flüsterte sie. »Es tut mir so leid, entschuldige!« Sie weinte weiter in ihr Kissen, und es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis sie endlich die Hand ihrer Freundin auf ihrer Schulter spürte. »Es tut mir so leid«, flüsterte Carla wieder.
»Glaubst du, es ist eine gute Idee, wenn du die Tabletten jetzt schon absetzt?«, fragte Ella. Sie klang ehrlich besorgt.
Es war nicht so, dass sich Carla diese Frage nicht auch schon gestellt hätte. Sie hatten die Dosis während der letzten drei Wochen reduziert, seit zwei Tagen nahm sie nur noch eine
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