Das alte Kind
viertel Tablette vor dem Schlafengehen, sonst nichts. Sie hatte seit zwei Nächten überhaupt nicht mehr geschlafen, sie hatte kein Hungergefühl mehr, und die Panik übermannte sie in unschöner Regelmäßigkeit. Der Therapeut hatte versucht, ihr klarzumachen, dass sich das bald legen würde, aber sie konnte nicht daran glauben. Sie wusste mittlerweile, dass sie es ohne Tabletten nicht schaffen würde.
»Genau von diesem Denken müssen Sie loskommen. Der größte Teil der Abhängigkeit ist psychisch. Durch diese Phase müssen Sie durch«, hatte er ihr gesagt, aber er hatte besorgt ausgesehen, er hatte ganz so ausgesehen, als ginge da gerade direkt vor seinen Augen etwas ganz gewaltig schief. Carla reagierte nicht so, wie es sich alle so schön erhofft hatten.
»Ich will noch nicht nach Hause«, sagte Carla und sah Ella ängstlich an. »Ich will erst nach Hause, wenn ich Felicitas gefunden habe, verstehst du das?«
Ella nickte. »Ich verstehe dich. Aber du kannst auch von zu Hause aus nach ihr suchen. Vielleicht sogar noch besser als von hier. Dann müssen wir keine Briefe mehr rein- oder rausschmuggeln aus Angst, die Klinikleitung könnte sie kontrollieren.« Ella zwinkerte ihr zu.
Carla zwang sich zu einem Lächeln. »Hast du mir eine Zeitung mitgebracht?«
»Nein. Heute nicht.«
Carla merkte sofort, dass ihre Freundin log. »Ella, du bist der einzige Mensch, dem ich vertrauen kann«, sagte sie warnend.
»Na gut. Ja, ich habe eine dabei, aber ich will nicht, dass du sie liest. Nicht, wenn es dir so schlecht geht.«
Carla schluckte und drückte den Rücken durch, um eine aufrechte Haltung bemüht. »Ich muss früher oder später sowieso lernen, mit der Realität umzugehen. Ich fand es noch nie richtig, dass sie uns hier so abschirmen.«
Ella zögerte. »Ich glaube nicht, dass es stimmt, was sie schreiben«, sagte sie vorsichtig.
»Zeig schon her«, sagte Carla und musste sich zusammenreißen, um sie nicht anzuschreien.
Die Freundin zog das kleingefaltete Feuilleton aus der Tasche. »Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass es wahr ist.«
Carla schnappte sich die Seiten und faltete sie auseinander. Nichts auf der ersten Feuilletonseite. Aber weiter hinten eine kleine Notiz, der Name ihres Mannes fettgedruckt:
Frederik Arnim folgt dem Ruf ans Mozarteum.
Mehr las sie nicht. Die Zeitungsseiten fielen zu Boden. »Das kann nicht stimmen«, flüsterte sie. »Er hasst Mozart. Er spielt Mozart gar nicht.«
»Er hat erst diesen Januar die Mozartwoche eröffnet«, warf Ella ein.
»Aber er hasst Mozart«, sagte Carla schwach. »Er kann doch nicht ans Mozarteum gehen. Was wird denn dann aus mir? Wie soll ich von Salzburg aus Felicitas finden, wenn sie irgendwo in Berlin ist? Sie ist doch in Berlin!«
Ella setzte sich so neben sie, dass sie ihre Hand halten konnte. »Hat er denn nie mit dir darüber gesprochen? Irgendetwas angedeutet?«
»Er spricht seit der Fernsehsendung kein einziges Wort mehr mit mir.«
»Aber hat denn Sally nichts gesagt? Oder Junior? Wenn von denen keiner was gesagt hat, wissen sie sicher auch nichts davon. Siehst du, es kann nicht stimmen.«
»Es steht in der Zeitung«, sagte Carla, und ihre Stimme kam ihr sehr fremd vor.
»Na und? In der Zeitung steht vieles, was nicht stimmt.« Ella drückte ihre Hand. »Mach dir keine Sorgen. Wenn du willst, rede ich mit Frederik.«
Carla schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie stand auf und sah auf Ella herunter. »Ich rufe ihn an. Ich rede selbst mit ihm. Sally hat mir gesagt, dass er diese Woche zu Hause ist.«
Ella nickte, zögerlich und langsam nur, aber sie nickte. »Tu das. Es ist ohnehin längst an der Zeit, dass ihr miteinander redet.« Sie stand vom Bett auf und umarmte Carla. »Ich komme bald wieder, verlass dich drauf. Und bis dahin rufe ich dich jeden Abend an.«
»Wie immer«, sagte Carla, ohne zu lächeln.
»Wie immer«, sagte Ella. Sie lächelte auch nicht.
Wie immer, dachte Carla, als ihre Freundin gegangen war. Als ob sie schon seit Jahren in dieser Klinik eingesperrt wäre. Dabei war nicht einmal ein halbes Jahr vergangen. Es war ihr hier so gut gegangen wie schon lange nicht mehr. Sie hatte Pläne geschmiedet, sie hatte Hoffnung geschöpft, sie hatte sich erholt. Bis sie ihr die Tabletten weggenommen hatten.
Sie wollte diese Tabletten nicht absetzen, sie wollte wieder jede Nacht schlafen und träumen, und sie wollte die Tage ohne Angst und ohne Panik erleben. Sie konnte unmöglich ohne ihre Tabletten nach Hause
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