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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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Friedhöfen spazieren?
    Nur um die eigenen Toten zu besuchen.
    Nun, hier weitet sich der Begriff eigen eben ein wenig. Wir können nachher bei Gérard de Nerval vorbeischauen, der ganz bescheiden im Schatten Balzacs liegt.
    Vielleicht plaudert er ja mit uns, sagte der Amerikaner, der sich noch nicht an den Gedanken gewöhnt hatte.
    Vielleicht. Wenn wir still sind und lauschen.
    Sie hatten den Friedhof Père Lachaise von Osten her betreten, von der Place Gambetta kommend, nicht durch den Haupteingang an der Avenue Philippe Auguste und die breite Prachtallee hinauf. Hélène wählte den offenen Rundweg nach links, Richtung Süden, wo die Gedenkstätten
und Denkmäler standen. Sie ließen das Krematorium und die großen, lichten Divisionen hier oben rechts liegen, hinter denen sich dichter Wald zu schließen schien, und gingen langsam an der hohen Mauer und ihrem blühenden Heckenrosenmassiv entlang. Gedenktafeln wechselten sich mit Friesen ab, Denkmäler mit Skulpturen. Es gab ein Mahnmal für die russischen Widerständler, eines für die tschechischen Soldaten, ein anderes für die Armenier, die für Frankreich gefallen waren. Am südlichen Ende vor der Mauer, unterhalb deren die Rue de Bagnolet verlief, begannen die Mahnmale der Konzentrationslager. Der Amerikaner blieb vor einem stehen, das eine expressionistisch hagere und in ihren gemarterten Verwindungen in Metall erstarrte männliche Gestalt zeigte, die in einem riesigen, dornigen Geäst hing, das so aussah, als hätte der Künstler sich die starken Zweige der Heckenrose zum Vorbild genommen, die dahinter an der Friedhofsmauer emporwuchsen.
    Es war ein Spätsommertag, in jedem kühlen Windstoß, in jedem Erblassen der Farben, wenn sich eine Wolke vor die Sonne schob, kündigte sich bereits der Herbst an. Noch befand die Stadt sich in träger Augustlethargie, an der auch die Massen schwitzender Touristen nichts änderten, eine der Ebbegezeiten im Puls der Stadt, die erst in der ersten Septemberwoche mit der Rentrée enden würde, wenn wie eine Springflut das hektische Leben in die Kapitale zurückdrängt.
    Den Grabmälern von Paul Vaillant-Couturier und Guy Môquet und den erschossenen Märtyrern folgten die Skulpturengruppen und steinernen Trauermauern für Auschwitz-Birkenau, Bergen-Belsen, Neuengamme,
Oranienburg-Sachsenhausen, Buchenwald-Dora, Flossenbürg, Natzweiler-Struthof und Mauthausen.
    Vor der Skulptur der Deportierten von Buchenwald blieb Cote lange stumm stehen, deutete dann auf den abgezehrten, skelettartigen Menschen, dessen Gelenke dicker waren als seine Glieder. Er räusperte sich, wollte Hélène etwas sagen, brachte dann aber nur ein Nicken zustande und ging weiter.
    Von Ihrer Familie liegt aber niemand hier?, fragte er, als sie die breite Allee verließen und auf einem schmalen Weg bergab in den dicht überwachsenen Bereich wechselten, wo in den kleinen Totenhäuschen ab und zu einzelne Lichter brannten und scheue Katzen Wasser aus abgestellten Untertassen leckten, die Sprünge hatten oder deren Email abgeschlagen war.
    Nein, leider nicht. Meine Großeltern liegen beide in Thiais draußen. Um hier begraben zu werden, waren sie nicht reich und nicht berühmt genug. Und mein Vater ist gar nicht in Paris beerdigt.
    Ist Ihre Großmutter denn auch tot?, fragte der Amerikaner.
    Ja, sie ist im vorletzten Winter gestorben.
    Das haben Sie mir gar nicht erzählt.
    Nein? Vielleicht, weil ich nicht daran denken will. Es war zu schrecklich.
    Ein Sonntagmorgen im Dezember. Früh. Sie waren gestern nicht rausgekommen zum Besuch, und Hélène hatte ein ungutes Vorgefühl, eine unbestimmte Furcht. Sie hatte es eilig. Eine blasse Wintersonne spannte eine fadenscheinige Lichtgaze über Häuser und Straßen. Die Landschaft wirkte wie unter Zellophan schockgefroren.
Auf den Wiesen und umgepflügten Äckern, an denen sie zwischen den Vororten vorüberfuhren, lag Reif. In den kahlen Bäumen glitzerte der Frost wie Diamantsplitter. Es war kaum ein Auto unterwegs. Menschen sahen sie überhaupt nicht. Auch Draveil war menschenleer. Geschlossen die meisten Fensterläden der kleinen ein- und zweistöckigen Häuser des ehemaligen Dorfes, das von der Urbanisierungsschlacke überflutet worden war, seine abgegrenzte Form verloren hatte und nur noch ein unbedeutender Nexus im Siedlungslabyrinth von Suburbia war. Irgendwo fernes Kirchenglockenläuten. Das Neun-Uhr-Läuten. Ein Straßenhund schlich verängstigt an den gelben Häusermauern entlang, auf denen verblichene

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