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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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Anschläge klebten. Die Geriatrie ragte zwischen den Giebelhäuschen empor, ein Hochhaus aus den Siebzigern, ebenso heruntergekommen wie alle Wohnblöcke aus der Pompidou-Zeit, an denen sie seit Créteil vorbeigefahren waren. Graue Schlieren von herabgeflossenem Regenwasser auf den Mauerverkleidungen. Herausgebrochene Kunststoffplatten, darunter die rostige Armierung.
    Die Autos auf dem Krankenhausparkplatz waren von einer schmutzigen Reifschicht bedeckt. Kein Mensch war zu sehen oder zu hören. Ein überdachter, offener Säulengang führte zur Eingangstür des Hochhauses. Vor der Tür stand ein zusammengeklappter Rollstuhl. Die dünnen Raseninseln zwischen den kahlen Stellen des Krankenhausgartens waren silbern überwebt wie von Spinnennetzen. Im niedrigen Foyer, das von einer Neonröhre beleuchtet wurde, deren Milchglasabdeckung mit den schwarzen Punkten toter Fliegen und Falter gesprenkelt
war, befand sich niemand. Sie warteten vor dem verkratzten blauen Lack der Aufzugstür quälende Sekunden lang, bis das Lämpchen des Erdgeschosses aufleuchtete und die Tür sich rumpelnd aufschob. Sie fuhren in den sechsten Stock. Im Treppenhaus herrschte Stille.
    Sie öffneten die Tür in den Krankensaal. Nach der trockenen Kälte draußen schlug ihnen schale Wärme und der Gestank nach sauren alten Körpern, nach Urin und Desinfektionsmittel und Zersetzung entgegen. Ein leise auf- und abschwellendes Lamento aus Dutzenden von Kehlen erfüllte den riesigen Raum, der das gesamte Stockwerk einnahm, ein schmerzerfüllter und zugleich kraftloser Klagechor, grabestief wie eine endlos gestrichene Baßseite, dann wieder jenseitig und grausig wie ein Orchester singender Sägen. Links und rechts Fensterfronten, daran aufgereiht die elfenbeinfarbenen Metallbetten. In der Mitte zwei Reihen viereckiger Säulen, deren Putz grau und fleckig war von unzähligen Händen, die sich über Jahrzehnte hin an ihnen abgestützt und festgehalten hatten, und an den Kanten abgestoßen von Rollstühlen, Servierwagen oder zu schnell davongeschobenen Betten. Einige der Greise tappten in auf dem Rücken und dem Gesäß offenen Nachthemden durch den Korridor. Einige brabbelten. Einige saßen aufrecht im Bett, abgezehrt, in den tiefen Augenhöhlen irrende, flackernde Blicke. Andere hoben die Arme und starrten die Eindringlinge hilfesuchend und erschreckt zugleich an, als erinnerten sie sich nur dunkel an die Welt der Lebenden. Eingefallene Münder formten lautlose Worte, aber die Augen waren jenseits von Hoffnung. Es war der Saal der verlorenen Seelen, die von diesem Ufer nicht
loskamen und das jenseitige nicht erblickten. Ein dürrer alter Mann an der rechten Fensterseite stand neben seinem Bett, eine zittrige Hand hielt sich an den Gitterstäben fest, und sah an sich hinunter, wo unter dem Nachthemd hervor, an seinem violetten Bein mit den offenen Stellen dünner, flüssiger Kot in Rinnsalen sich seinen Weg zwischen weißen Haaren hindurchbahnte, über Knie und Kniekehlen und Waden lief und sich rund um die Füße zu einer braunen Pfütze sammelte. Er sah die Besucher und mümmelte mit dem zahnlosen Mund, aus dem kein Ton kam, und blickte sie aus verzweifelten Augen an, als bitte er um Vergebung. Keine drei Meter davon fegte eine kleine Maghrebinerin in rosa Kittelschürze achtlos den schmutzigen Linoleumboden. Sie blickte kurz auf, sagte aber nichts. Sie nickten ihr zu. Pflegepersonal war nicht zu sehen, nicht zu hören. Vielleicht gab es keines. Es gab auch keine Klingel.
    Das Bett von Hélènes Großmutter war das achtzehnte auf der linken Seite. Hélène beschleunigte ihren Schritt, ihre Absätze knallten wie Hammerschläge auf das Linoleum. Die letzten Meter rannte sie. Zuerst glaubte sie, sich getäuscht zu haben, denn auf dem scheinbar leeren Bett lag nur ein Laken. Erst auf den zweiten Blick sah sie die spitze, pyramidenförmige Ausbuchtung des Lakens auf Kopfhöhe. Aber dann vermochte sie nicht, das Leichentuch fortzuziehen, bevor ihr Mann neben ihr stand.
    Sie muss fürchterlich gekämpft haben, sagte Hélène. Sie muss um jeden Atemzug gerungen haben mit dem Tod, der ihr auf der Brust hockte. Sie muss entsetzlich gelitten haben. Und sie war vollkommen alleine während dieses Kampfes dort in der Hölle von Draveil.

    Das rundliche Gesicht ihrer Großmutter war verformt, als hätten brutale Hände eine Wachsskulptur gequetscht und zusammengepresst. Die weit aufgerissenen Augen starrten schreckgeweitet, aber leblos zu den Neonleuchten an der Decke

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