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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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hinauf. Die Nase, spitz wie ein Schnabel, war ebenfalls nach oben gereckt, als hätte ein Untergehender mit letzter Kraft versucht, sie über Wasser zu halten. Auch das Kinn, ebenso spitz, war in der Agonie steil nach oben ragend erstarrt. Der zahnlose Mund war weit aufgerissen, die Wangen durch die Anstrengung ausgehöhlt, als sei alles Fleisch, das sich einmal unter der Haut befunden hatte, weggeschmolzen oder aus dem Leib hinausgepresst worden. Die von der Polyarthritis verkrümmten Finger waren zu zwei Krallen versteinert, die erschreckend dünnen Unterarme, voller gelber und purpurner Flecken von Kanülen und Spritzen, in hilfloser, vergeblicher Abwehr halb aufgerichtet. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt. Hélène konnte ihr weder die Augen noch den Mund schließen, auch die Finger nicht lösen.
    Ich hätte ihr so sehr einen friedlichen Tod gewünscht, ein Hinübergleiten. Wir hatten gerade ein schönes, privates Pflegeheim in Montereau gefunden, wohin sie eine Woche später hätte gebracht werden sollen. Ich werde in meinem Leben den Anblick dieses fürchterlichen Kampfes nicht vergessen. Wie dieses flackernde Flämmchen Leben sich gegen den Wind des Todes gewehrt hat. Und was war es denn noch für ein Leben? Gott, was muss sie für eine Angst gehabt haben vor dem Sterben und dem Jenseits, dass sie sich so dagegengestemmt hat. Ich frage mich die ganze Zeit, was sie denn gesehen hat, das
ihr eine solch entsetzliche Angst einjagte. Ich frage mich seither jeden Tag: wozu …
    Sie gingen hintereinander die schmalen Wege am oberen Rand des Hanges entlang. Efeu wucherte über den Kies, die seitlichen Einfassungen waren von Baumwurzeln gesprengt. Hier waren viele Grabplatten eingesunken oder zerbrochen, viele der kleinen Wächterhäuschen halb verfallen. Sie stiegen treppab und treppauf, bis sie schließlich am anderen Ende des Friedhofs auf eine breitere, gepflasterte Allee trafen und kurz darauf vor dem imposanten Grab Balzacs und dem unscheinbaren Gérard de Nervals standen. Aber keiner sprach zu ihnen.
    Der Amerikaner überlegte die ganze Zeit fieberhaft, ob er auf das Erlebnis eingehen sollte, das Hélène ihm geschildert hatte, oder nicht besser das Thema wechseln.
    Schließlich sagte er: Meinen Sie, dass man hier Vögel beobachten darf?
    Hélène musste lachen. Warum nicht? Die Toten stört es nicht, und solange Sie nicht auf den Grabsteinen herumturnen …
    Ich weiß nicht. Hat es nicht etwas Pietätloses? Und die Franzosen sind doch sehr streng in solchen Fragen der Etikette …
    Hélène zuckte die Achseln.
    Ich glaube nämlich, ich habe eben oben in einem Baum einen Pirol gesehen. Aber ich bin nicht ganz sicher. Sie sind ja sehr selten.
    Mein Mann hat mir einmal ein Gedicht vorgelesen, das beginnt mit: Kindheit, da hab ich den Pirol geliebt.
    Cote nickte. Ja, das stimmt, sagte er.

    Sie gelangten an einen großen runden Platz, in dessen Mitte ein Springbrunnen stand, dessen Fontäne immer wieder von Windstößen zur Seite geblasen wurde wie ein Perlenvorhang, sodass das Wasser auf die Sandsteinumrandung klatschte, die sich rostrot gefärbt hatte.
    Sie setzten sich auf eine der Bänke.
    Ich möchte irgendwann einmal wieder Vögel beobachten und rudern können. So wie früher. So ganz -. Er wusste nicht weiter und dachte nach. Dann wiederholte er: So wie früher.
    Auf einer Bank saßen zwei alte Frauen, schwere Einkaufstüten neben sich abgestellt. Die eine war sehr dick, die andere, schwarz gekleidet, sehr dünn. Hélène sah beiden ihre Altpariser Armut aus fehlenden Badezimmern in den Loi-1948-Wohnungen und schlechter zahnärztlicher Betreuung an. Aus einer der Alleen bogen zwei weitere Frauen. Ein paar Minuten später gesellten sich noch mehrere, die um den Springbrunnen herumkamen, zu ihnen. Sie besetzten die drei Bänke links von der Hélènes und des Amerikaners. Alle trugen Tüten. Alle waren alt und sahen ärmlich aus. Eine stand auf und rief, sich dem Gebüsch zuwendend: Miezmiezmiez!
    Hélène lächelte ein wenig, sie wusste, was geschehen würde.
    Plötzlich strich unter einer der Bänke eine magere Katze hindurch, deren Schwanz hochschlug wie eine Stahlfeder, sobald sie unter den Holzlatten hervorkam.
    Zwei weitere folgten aus dem Rhododendronmassiv, andere standen plötzlich da, wie aus der Luft gezaubert, eine kam ungeniert um den Brunnen herum über den Kiesweg getrabt. Sie rieben sich an den Beinen
der Frauen, stellten die Schwänze auf, buckelten und maunzten, während die Frauen den

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