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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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klobig wirkenden Füße mit nach außen weisenden großen Zehen und arthritisch verformten Ballen steckten in blauen Adiletten.
    Er war es nicht, denn es fehlte seine unvergessliche, rauchige Stimme. Stumm, schwer atmend, schlurfte der Sterbende an Hélène vorüber, mit schiebenden Schritten, quälend langsam, ohne bemerkt zu werden, ohne angesprochen zu werden, passierte er die Lobby, starr geradeaus blickend, den Kopf mit dem kurzen Hals ein wenig vor dem Oberkörper tragend, so geriet Marcello Mastroianni außer Sicht.
    Bevor das Grauen noch von ihr Besitz ergreifen konnte, schüttelte Hélène es ab, steuerte schnellen Schritts auf ihren Mann zu, blieb vor ihm stehen, sah ihm in die Augen, bis er ihren Blick erwiderte, und sagte laut und deutlich: ICH-KANN-NICHT-MEHR.
    Dann ging sie, ohne eine Reaktion abzuwarten, wie betäubt zur Tür hinaus in den düsteren Novembernachmittag.
    Ihr Mann blieb reglos stehen, den Blick immer noch auf den leeren Raum gerichtet, den soeben Marcello Mastroianni durchquert hatte, aber nach einigen Sekunden
stieß der Amerikaner sich von der Wand ab und ging ebenfalls zur Tür hinaus. Von dort konnte er, die Rampe hinabblickend, Hélène gerade noch durch den Torbogen im Boulevard Victor Hugo verschwinden sehen.
    Hélène ging die Straße hinab, schlug den Mantelkragen hoch gegen den einsetzenden Schneeregen. Die Absätze ihrer Stiefeletten hämmerten auf die Gehwegplatten. Sie eilte, als wolle oder könne sie ihr Schicksal abhängen, es hinter sich lassen, es zurück im amerikanischen Hospital lassen oder es unter ihren Schuhen in Stücke treten.
    Sie hatte kein Auge für die Veränderungen, die der Streik im Straßenbild Neuillys hervorgerufen hatte. Die Straße war wie ausgestorben, an vielen Fenstern der noblen Apartmenthäuser waren die Rolläden heruntergelassen oder die Läden geschlossen. An schmiedeeisernen Toren hingen Vorhängeschlösser. Mülleimer und Müllcontainer, überquellend, übertürmt und eingefasst von süßlich stinkenden, quellenden Plastiktüten, säumten ohne Zwischenraum das Trottoir.
    Der Streik, der wie jeden Herbst als Eisenbahnerstreik begonnen und sich zu einem Generalstreik ausgeweitet hatte, ging in die sechste Woche. Er hatte sich zu einem Machtkampf zwischen der Bevölkerung und Premierminister Juppé gesteigert, die erstarrten Fronten waren ineinander verkeilt, zu den streikenden Eisenbahnern hatten sich die U-Bahn- und Busbetriebe gesellt, dann nach und nach der Rest des öffentlichen Dienstes. Kindergärten waren geschlossen, die Schulen, Universitäten solidarisch, im staatlichen Radio liefen nur noch Endlosschleifen Musik, von Kurznachrichten unterbrochen, die Müllabfuhr und die Stadtreinigung waren dazugekommen,
die Krankenhäuser (außer den privaten wie dem amerikanischen Hospital) fuhren Minimaldienst, Air France streikte, sodass es quasi unmöglich wurde, das Land zu verlassen oder hineinzukommen, Renault streikte, es war ein Generalstreik, und Paris, erstarrt im Herbstregen, war dabei, einen Infarkt zu erleiden, alle Lebensadern, alle Gefäße waren blockiert.
    Hélène und ihr Mann hatten bereits am Vormittag fast zwei Stunden gebraucht, um mit dem Auto durch den anschwellenden und immer zäheren Verkehr quer durch die Stadt bis nach Neuilly zu kommen. Hier war ein Teil der Bevölkerung, der es sich leisten konnte, aufs Land geflohen, und der Bürgermeister, Sarkozy, ließ die CRS durch die Straßen patrouillieren, um Vorstadtbanden, die, wie er sagte, Ratten gleich, die Futter gewittert haben, in die gefesselte Stadt strömten, am Plündern zu hindern.
    Aber weder auf dem Boulevard Victor Hugo noch auf dem Boulevard du Château war irgendetwas von Jugendlichen aus den Vororten zu sehen, was die drei blauuniformierten, mit Helmen und Plexiglasschilden gewappneten CRS-Beamten hätte aufschrecken müssen, die breitbeinig in ihren Schnürstiefeln, die weißen Schlagstöcke am Gürtel baumelnd, vor ihrem Panzerwagen standen und ausdruckslos durch die Passanten hindurchsahen, die an ihnen vorbei zum Kiosk gingen oder das Ortsschild passierten und nach Levallois hinüberwechselten. Auf der Brust jeder Uniform prangte das Abzeichen der Truppe mit der aufgestickten Trikolore. Die Menschen machten einen Bogen um die Milizionäre. Man sprach vielleicht Polizisten an, auch noch Gendarmen, aber keine CRS.

    Hélène, im Hallraum der Endgültigkeit gefangen, in dem ihre Schritte tönten und aus dem kein Entkommen war, wusste nicht, wohin sie ging

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