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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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als weg. Sie hatte kein Ziel, fasste keinen Gedanken, lenkte sich nur automatisch in die Richtung, die sie immer einschlug, zur U-Bahn, um nach Hause zu kommen. Zugleich wusste sie, dass keine U-Bahn fuhr. So schnell ging sie, dass der Amerikaner sie erst am Ende des Boulevard Victor Hugo einholte, erst im Boulevard du Château auf ihre Höhe kam, in Sichtweite der drohend-provokant den Ein- und Ausgang von Neuilly kontrollierenden Uniformierten. Auch er wusste nicht, was er eigentlich vorhatte, außer Hélène nicht aus den Augen zu verlieren. Er war hinaus auf die verlassene Straße gestürmt, hatte die verbarrikadierten Fenster wahrgenommen, und dort erfasste ihn plötzlich ein Schwindel, der die drei Dimensionen durchschüttelte, sodass der Amerikaner schwankte, als sei er aus einem schaukelnden Boot gestiegen, und zunächst die Kanten der Häuser schräg werden und auf sich niederstürzen zu sehen glaubte - eine Perspektivenverschiebung, ein irrsinniges Zusammenbrechen der Fluchtlinien wie auf einem expressionistischen Großstadtgemälde. Er konzentrierte sich, biss die Zähne zusammen und eilte Hélène hinterher wie ein soeben vom Himmel gefallener, desorientierter und verängstigter Schutzengel.
    Als er sie am Arm fasste, fuhr sie herum und starrte ihn ungläubig an. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Was machen Sie um Himmels willen hier?
    Er zuckte beschämt die Achseln und atmete ein paar Mal tief durch, so unkoordiniert und in halber Apnoe war er hinter ihr hergelaufen.

    Ihnen nachgehen. Ich hatte das Gefühl, Sie wollten, Sie sollten nicht alleine sein …
    Sie lächelte ihn müde an und dachte, dass wahrscheinlich in ihren Augen eine ähnliche Traurigkeit zu lesen sein müsse wie damals in denen des Amerikaners, die sie jetzt aber weit geöffnet, besorgt, konzentriert musterten.
    Danke, das ist lieb, sagte sie. Aber es geht mir sehr gut, ich brauche -.
    Ich glaube nicht, dass es Ihnen gutgeht, sagte er entschieden, und sie sah ihn verblüfft an. Ich glaube, es ist gut, wenn Sie - wenn Sie nicht alleine hier durch die Gegend laufen. Was ist denn hier überhaupt los? Das sieht ja aus wie in der Bronx!
    Auch Hélène musste durchatmen und lächelte dann. Streik ist los. Ein richtiger französischer Streik. Nichts bewegt sich mehr. Ist Ihnen das noch gar nicht aufgefallen? Er läuft doch schon seit Wochen.
    Der Amerikaner zuckte die Achseln. Wir leben ziemlich autark in der Botschaft. Und ziemlich isoliert, zugegebenermaßen. Wo wollen Sie denn überhaupt hin?
    Hélène blickte um sich, als bemerke sie überhaupt erst jetzt, wo sie war. Keine Ahnung, sagte sie. Nach Hause, nehme ich an. Ich weiß es nicht.
    Ich komme ein Stück mit Ihnen mit, sagte der Amerikaner. Sie haben mir Angst gemacht, wie Sie da zur Tür hinausgestürzt sind. Ich hatte Angst, Sie könnten eine Dummheit begehen.
    Hélène lächelte. Sie meinen, von einer Brücke springen oder so? Da hinten ist die zur Île de la Jatte. Das war mal ein romantischer Ort, ist aber lange her. Nein,
ich mache keine Dummheiten. Da schätzen Sie mich falsch ein.
    Darf ich Sie denn begleiten?, fragte der Amerikaner.
    Sicher, sagte Hélène. Und dann: Können Sie es denn wieder? Ich meine, so auf eigene Faust durch die Stadt laufen?
    Er lächelte. Ich hab Sie ja dabei …
    Hélène musterte ihn. Das kann heiter werden. Zwei Krüppel, die sich gegenseitig stützen …
    Der Amerikaner zuckte ein wenig zusammen, dann sagte er: Meinen Sie, das sind wir? Ich wusste nicht, dass Sie so schonungslos sein können.
    Ich auch nicht, sagte Hélène. Aber die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, das ist das, was bleibt. Tut mir leid, wenn Sie auch darunter leiden müssen.
    Was ist denn passiert?, fragte der Amerikaner. Schlechte Nachrichten?
    Hélène sah ihn mit etwas verengten Augen an, als wundere sie sich plötzlich darüber, dass er neben ihr stand.
    Definitive Nachrichten, sagte sie. Ich werde mein Leben neu orientieren müssen.
    Dann sah sie wieder das betretene Gesicht Le Goffs, der sie über seine Goldrandbrille schief anblickte und ihr mitteilte, dass der Embryo sich nicht korrekt weiterentwickele. Seine Hände lagen ausgestreckt auf der Schreibunterlage. Sie nahm den goldenen Ehering wahr, die teure Uhr, die feinen grauen Haare, die Sehnen und Adern und die sauber geschnittenen Nägel. Es war ihr, als flehten diese Hände sie an, endlich eine Entscheidung zu treffen, die kein anderer, nicht Le Goff, nicht ihr Mann, für sie treffen konnte und wollte. Sie blickte

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