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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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über den Arzt
hin auf die Seglerfotos und dachte: ein letztes Mal. Sie blickte wieder auf die Hände, auf die Manschetten des fein linierten blau-weißen Hemdes unter dem Arztkittel, und ihr wurde bewusst: Diese Hände, dieser Mann sind nicht verantwortlich für mein Leben. Und dachte weiter: Auch der andere Mann dort unten am Eingang, so aufgeregt, so verkrampft hoffend, dass er sich nicht getraut hat, mit heraufzukommen, um nicht dabei sein zu müssen, wenn das Urteil sie trifft, auch dieser Mann, ihr Mann, trug nicht die Verantwortung für ihr Leben. Sie hörte seine Stimme, leise, beschwichtigend, horchend, lauernd, insistierend, er würde es aus Pietät zunächst nicht wagen, etwas zu sagen, und später dann doch wieder: Lass es uns noch einmal versuchen, würde er sagen. Aber plötzlich war ihr klar, dass auch er nicht die Zuständigkeit für ihr Leben hatte. Nur ich selbst habe sie, dachte sie. Ich kann darüber entscheiden. Und dieser Gedanke war so verblüffend, als hätte sie jahrelang vergessen gehabt, dass es schon immer so gewesen war, nie anders. Nur ich kann darüber entscheiden, und ich kann tatsächlich entscheiden. Ich bin nicht irre, ich bin nicht krank, ich kann es tatsächlich beenden. Und indem sie das dachte, wusste sie zugleich, dass die Entscheidung soeben gefallen war.
    Es mischte sich, während sie aufstand und sich von Le Goff verabschiedete, eine ungeheure Erleichterung mit einem eiskalten Gefühl vollkommener Einsamkeit, das einen immer befällt, wenn man alleine und unbeeinflusst einen wichtigen Entschluss fasst.
    Und in diesem transparenten Eiskubus des einsamen Entschlusses bewegte sie sich vorwärts, sah die Patienten, sah Le Goffs Sekretärin, sah die Station, die Aufzugstür,
die Aufzugskabine, sah unten den todgeweihten Mastroianni, sah den Amerikaner, sah ihren Mann, teilte ihm ihre Entscheidung mit und trat hinaus.
    Ich werde mein Leben neu orientieren müssen, hatte sie eben zu dem Amerikaner gesagt. Und schloss jetzt an: Warum sind Sie eigentlich hinter mir hergekommen?
    Cote, der die Frage verstand, sagte nichts.
    Hélène musste vor dem heruntergelassenen Gitter am Fuß der Treppe hinab zur Endhaltestelle Pont de Levallois stehen und sehen, was sie wusste, um zum ersten Mal innezuhalten und sich darauf zu besinnen, was sie wollte.
    Der große, blau verglaste Büroturm, der seit Kurzem den Platz beherrschte, verschwand in seinen oberen Geschossen im tiefhängenden, graugrünen Wolkenmeer, aus dem es abwechselnd regnete und schneite. Der Verkehr hinaus aus der Stadt in Richtung Seine floss, aber hinein nach Paris staute er sich, eine hupende Autoschlange bewegte sich im Schrittempo an den zu beiden Seiten der Fahrbahn hochragenden Müllbergen vorüber. Die aufsteigenden Auspuffgase, ein wallender Bodennebel, waberten bis auf Höhe des ersten Stocks, während die kalte Feuchtigkeit aus den Wolken sich auf die Dächer senkte, die Fassaden der Häuser sich vollsogen, dunkel wurden wie durchnässtes Leder. Es war ein Vorstadtbild voller Trostlosigkeit, in das Hélène sich jetzt hineinbewegte, sie deutete, um dem Amerikaner zu verstehen zu geben, wohin sie wollte, mit dem Finger in die Rue Anatole-France, in Richtung Innenstadt.
    Die enge Straße, in die der Schneeregen fiel und auf deren schmalem Trottoir Hélène und der Amerikaner
einmal neben-, einmal hintereinander gingen, war nicht trostloser, ärmlicher oder verlorener als irgendeine andere hier, und doch schien sie - anders als die weiteren, stolzeren, selbstbewussteren Straßen von Neuilly, das sich selbst genügte und der Anziehungskraft der Kapitale trotzte - die Quintessenz der Vorstadtmisere zu verkörpern: ein existenzielles Problem, für das es Lösung und Erlösung nur gab in Paris. Die Banlieue, deren Seele, herausgesogen wie von einem Inkubus, verloren war; nur tote Haut, tote Hülle blieb übrig, wogegen die Stadt alles Blut, alle Hoffnung, alle Lebenskraft an sich riss. Und tatsächlich zog es nicht nur Hélène und Cote zur Stadtgrenze, ein zunehmender Strom unfreiwilliger Fußgänger, Männer und Frauen aus Büros, die nicht so aussahen, als seien sie hier normalerweise zu Fuß unterwegs, alle drängten auf beiden Seiten der Straße mit ihren Umhängetaschen und Aktenkoffern in Richtung Paris.
    Als die Vorstadt sich zu der riesigen Brache des Boulevard Périphérique hin öffnete, war das ganze Ausmaß des Chaos erstmals zu überblicken.
    In der beginnenden Dämmerung schimmerte die immer tiefer hängende

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