Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
Vom Netzwerk:
erfahren, wer der verdammte Sauhund war, der das Dorf hat beschießen lassen, und ich hab eins auf den Deckel bekommen, weil der Kommandant der Kompanie, die das getan hatte, geschworen hat, seine Leute hätten durchs Fernglas entdecken können, dass die Zivilisten mit der weißen Fahne Waffen trugen und versucht haben, ins Schulhaus zu schleichen, um weitere, dort versteckte Waffen an sich zu bringen. Mit einem Wort, ich musste auch noch Danke sagen, dass die Umsicht der Kameraden meine Leute und mich davor bewahrt hat, einem terroristischen Anschlag zum Opfer zu fallen …
    Er lehnte sich zurück und sah Hélène mit erwartungsvoll hochgezogenen Brauen an.
    Das ist entsetzlich, das ist furchtbar, sagte die, aber Sie müssen sich doch keine Vorwürfe machen. Sie haben doch etwas ganz Normales, Menschliches getan.
    Er schüttelte den Kopf. Sie verstehen nicht, Hélène. Wenn ich die Kinder nicht aus dem Haus gelockt hätte, wäre ihnen wahrscheinlich nichts passiert. Aber warum habe ich sie aus dem Haus gelockt?
    Er beugte sich vor.
    Das will ich Ihnen sagen: Ich habe sie aus ganz egoistischen Gründen aus dem Haus gelockt. Es hat mir wehgetan,
dass sie sich vor mir verstecken, dass sie vor mir Angst haben, als wäre ich der böse Feind und Mörder, den ihre Propaganda in mir sieht. Ich fand das ungerecht, Hélène. Ich wollte von diesen Kindern bestätigt bekommen, dass ich ein anständiger Kerl bin. Ich wollte in ihren Augen, aus ihren Blicken eine Rechtfertigung, eine Entschuldigung für mich lesen. Ich wollte, dass diese Kinder mir vertrauen, zum Beweis dafür, dass man mir vertrauen kann. Ich habe sie benutzt. Und sie haben meinen Wunsch, von ihren Augen und Händen und lachenden, vertrauensvollen Gesichtern mein Ego te absolvo zu bekommen, mit dem Leben bezahlt.
    Das ist meine Schuld.
    Er beugte sich mit hängenden Schultern nach vorn, blickte auf die Erde vor seinen Schuhen und fingerte nach einer Zigarette.
    Das ist meine Schuld, sagte er noch einmal. Meine Schuld, die mich nicht verlässt, und wenn ich sie zehnmal vergesse, und ich bin gespannt, mit welchen Mitteln Woods, wenn ich sie ihm morgen erzähle, versuchen wird, sie umzustrukturieren und umzupolen und mir weiszumachen, dass in jedem negativ wahrgenommenen Akt etwas Positives steckt.
    Aber Sie sühnen doch jetzt schon fünf Jahre dafür, murmelte Hélène.
    Er hob den Kopf und sah sie an.
    Reicht das?, fragte er.
    Sie gab ihm ein Taschentuch, und er nahm es.
    Die alten Frauen waren fort, die Katzen auch.
    Was ich eigentlich sagen wollte, das war, wenn keine Frau mehr ein Kind bekäme, dann könnte es auch keine
vierzehnjährigen Soldaten mit durchtrennten Achillessehnen mehr geben und keine kleinen wunderschönen schwarzhaarigen Mädchen, die im Krieg in Stücke geschossen werden. Aber das ist natürlich Blödsinn.
    Hélène drückte seine Hand und lächelte traurig.
    Danach saßen sie schweigend auf der Bank und blickten auf den Springbrunnen. Rund um seine Einfassung verlief, in den roten Sandstein gehauen, ein Fries, der, soweit es noch zu erkennen war, irgendwelche mythologischen Kampfszenen zeigte. Krieger, Frauen, geflügelte Tiere. Der Amerikaner machte Hélène darauf aufmerksam, dass die über den Rand des Brunnens tropfenden Spritzer an den Gesichtern der Basreliefs hinunterliefen wie Tränen.
    Hélène nickte. Sunt lacrimae rerum, sagte sie.
    In einem Gedicht des andern Lyrikers aus meiner Heimat, aus Worcester, Kunitz heißt er, ein uralter Mann mittlerweile, steht die Frage: How shall the heart be reconciled to its feast of losses?, sagte der Amerikaner leise. Wie soll das Herz je mit der Fülle seiner Verluste ausgesöhnt werden?
    Es fiel ihnen nicht auf, dass keine Besucher mehr unterwegs waren. Dann bog ein schwarzer Friedhofsgärtner im grünen Arbeitsanzug um die Ecke, einen Besen in der Hand, blieb stehen, riss die Augen auf, stemmte in gespielter Empörung eine Hand in die Hüfte und sagte dann in vorwurfsvollem Ton, der bedeuten sollte, Nehmen Sie doch auch ein wenig Rücksicht auf meine Arbeitszeit: Ah, M’sieurdame. S’ju plaît! Wir schließen!
    Sie entschuldigten sich, standen auf und folgten dem Mann Richtung Ausgang. Sie kamen an einem kleinen
steinernen Wasserbecken mit einem Wasserhahn vorbei, und der Amerikaner fragte, ob sie sich eben noch die Hände waschen könnten.
    Sicher, sicher, sagte der Friedhofsbedienstete, und als er sah, wie Hélène, nachdem sie sich das Gesicht gewaschen hatte, den Hahn abdrehen wollte:

Weitere Kostenlose Bücher