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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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Hélène und der Amerikaner hatten die breite Schneise der Petite Ceinture noch nicht erreicht, da wandelte der Schnee sich schon wieder zu Regen. Die Flöckchen, die eben noch auf dem Haar Cotes liegen geblieben waren und ihm im Dämmerlicht das Aussehen eines Graumelierten verliehen, schmolzen und flossen seine Stirn und Schläfen herab. Hélène hatte längst die Kapuze ihres Kamelhaarmantels übergezogen, auf dem tausend Tröpfchen glitzerten, aber der sich langsam voll Wasser sog und dunkler wurde.
    Sie kämpften sich über den Boulevard Gouvion-Saint-Cyr, wie der nach den napoleonischen Marschällen benannte Ring um Paris herum in diesem Abschnitt
hieß. Die hohen, verrußten und von der Nässe noch zusätzlich nachgedunkelten Backsteinwände der Sozialwohnungsblocks, die den gesamten Gürtel rahmten und zu einer zugigen Schlucht machten, zwei Ringe einer neuen Stadtmauer, höher und abweisender als die alte, an deren Stelle sie getreten war, sahen aus toten Augen auf die reglose Reihe dicht an dicht stehender Autos und Lastwagen und die ameisengleich zwischen ihnen hindurchwimmelnden Fußgänger, die sich wie Hélène und der Amerikaner, über Stoßstangen steigend, sich auf Motorhauben abstützend, ihren Weg über die vierspurige Straße suchten.
    Wie auf einer Massenflucht oder bei einer Belagerung strömten die Menschen in die ohnehin schon überfüllte Stadt hinein, in einem von der absurden Hoffnung auf Klärung der Situation, Orientierung und dem Drang nach Hause zu kommen geborenen Lemmingszug.
    Die kahlen Platanen, deren grünschwarz schimmernde Stämme, von riesigen nassen Eisengittern umgeben und geschützt, aus dem Asphalt wuchsen, wiesen den Weg an der verbarrikadierten Metrostation Porte de Champerret vorbei in die großbürgerliche Avenue de Villiers, von der Hélène sich Raum zum Atmen und Entlastung versprach. Allerdings fiel ihr auf, dass sie unwillkürlich zu Fuß die U-Bahn-Trasse nachging, was vielleicht nicht der kürzeste und geradeste Weg war. Wohin?, dachte sie. Am schnellsten würde sie von hier in die Eisenbahnerwohnung in der Rue des Batignolles kommen. Aber sie hatte keinen Schlüssel und wusste nicht, ob ihre Tante zu Hause sein würde - eher unwahrscheinlich in dieser Situation. Nach Hause quer durch die Stadt bei diesem
Wetter war ein endloser Weg, aber obwohl es objektiv gesehen keine Alternative dazu gab, tendierte Hélène eher in Richtung Innenstadt, als ob sich dort alles klären würde oder ungeahnte Optionen auftauchen könnten.
    Der riesige runde Platz des Maréchal Juin mit dem Pavillon des RER-Bahnhofs am Rande und dem baumbestandenen Rondell, das normalerweise der Verkehr umtoste, war eine Wasserscheide. Jenseits davon war die Avenue de Villiers noch befahrbar. Überall rund um den Platz hatten Menschen ihre Autos stehen lassen, in waghalsigen Manövern wendeten hier Fahrzeuge, die Hälfte der Autos umrundete hupend, die Warnblinker eingeschaltet, den Kreisverkehr in Gegenrichtung, um sich vor dem finalen Stau zu retten, der in Richtung Périphérique allen Verkehrsfluss erstickte. Die Cafés waren voll von Menschen, die sich vor dem Schneeregen und der Aussichtslosigkeit in Wärme und Trockenheit flüchteten und miteinander ins Gespräch kamen. Wildfremde Menschen fingen unter den Markisen, wo sie Schutz vor dem Regen suchten, an, miteinander über die Lage und den Streik und die Regierung zu diskutieren. Auf dem überfüllten Platz redeten Fußgänger, die sich zwischen Kotflügeln und Stoßstangen ihren Weg bahnen mussten, mit den Insassen der Autos, die Fußgänger hatten im Gegensatz zu diesen ein paar Meter mehr Überblick und gaben ihre fatalistischen Prognosen den blind in ihren Metallkästen Eingeschlossenen weiter. Einer deutete erklärend in die Ferne, der Autofahrer winkte verdrießlich ab.
    Dann sah Hélène auf der Ladefläche eines schmalen, dreirädrigen Piaggio-Lieferwagens, der auf dem Trottoir gewendet hatte und jetzt in bollerndem Zweitaktknattern
die Avenue de Villiers nach Osten zurückrollte, einen Manager im dreiteiligen Anzug mit angezogenen Knien zwischen Bierkästen hocken, der, den Schirm aufgespannt, mit dem Rücken ans Führerhäuschen gelehnt, gegen die Fahrtrichtung sitzend, stoisch auf das Chaos hinabblickte, über das er hinwegglitt. Hélène stieß den Amerikaner an. Was für Allianzen!, sagte sie. Dass es einmal so weit kommt, dass die Todfeindschaft zwischen Autofahrern und Fußgängern in dieser Stadt aufgehoben ist!
    Cote nickte

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