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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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leisten, aber nicht, den Wagen zu verlieren. Naja. Und Sie? Auf dem Rückweg von der Arbeit? Wo wohnen Sie?
    Hinter der Bastille, sagte Hélène.
    Na, das geht ja noch. Da sind Sie ja heute Abend zu Hause.
    Ganz schön verfluchtes Chaos, sagte Cote, aus dem Fenster hinaus in den Schneeregen blickend und auf die schwarzen, nackten vielarmigen Skulpturen der Platanen, während sie im Stop-and-go meterweise die Avenue de Villiers hinabrollten. Komisch, dass die Leute nicht ausrasten.
    Sie sind nicht von hier, das merkt man. Wer hat uns denn diesen Schlamassel eingebrockt? Die Gewerkschaften doch nicht. Die haben ja nur reagiert. Der Schnösel Juppé ist schuld! Könnte ihm so passen, dass wir uns gegenseitig an die Gurgel gehen. Aber wenn er meint, er kann diesem Land seinen Willen aufzwingen, dann ist er schief gewickelt!
    Ich weiß nicht, sagte Hélène. Der Typ ist so weit weg, der bleibt stur, solange Chirac ihn deckt.
    Keine drei Tage mehr, prophezeite die Frau grimmig grinsend und dann hustend, weil sie sich an ihrem Rauch verschluckt hatte. Sie wischte wild die Scheibe frei. Keine drei Tage mehr, und er lässt ihn fallen wie
eine heiße Kartoffel. Warten Sie mal ab, wenn es hier richtig losgeht. Dann bleibt ihm gar nichts anderes mehr übrig.
    Es war eine unbequeme, aber unterhaltsame Fahrt. Der Amerikaner rückte mehrmals auf seinem Sitz hin und her, und Hélène wäre bei mehreren scharfen Bremsmanövern beinahe mit dem Kopf gegen die Scheibe geknallt, hätte sie sich nicht rechtzeitig abgestützt. Auf der Höhe von Saint-Augustin auf dem Boulevard Malesherbes war Schluss.
    Dort wo der Verkehr von der Gare Saint-Lazare in die breite Straße mündete, war kein Weiterkommen mehr. Sie warteten zehn Minuten im Auto, das sich keinen Zentimeter mehr vorwärtsbewegte, das Hupkonzert schwoll zum Dauergeheul an. Dann sagte die Fahrerin: Ich fürchte, das war’s.
    Was werden Sie jetzt machen?, fragte Hélène.
    Die Frau zuckte die Achseln. Vielleicht hole ich mir ein Sandwich und warte, was passiert. Und wenn es mir zu blöd wird, steige ich aus und gehe zu Fuß weiter.
    Viel Glück, sagte Hélène.
    Ihnen auch viel Glück.
    Ein Stück weiter den Boulevard Malesherbes hinunter in Richtung Madeleine, vorüber an den typischen sandfarbenen Haussmann’schen Blocks mit ihrer erhöhten Beletage, ihren fein ziselierten schmiedeeisernen Balkongittern und ihren vor Nässe schieferfarben glänzenden Zinkdächern verdichtete die Menschentraube auf dem breiten Trottoir sich, und der Amerikaner sah am Hin- und Herwanken der Masse, dass dort etwas nicht in Ordnung war.

    Aber es war bereits zu spät, die erregte Menge hatte sich bereits um sie geschlossen, es gab kein Zurück. Sie hörten die ersten explodierenden Böller. Dann war der Grund für den Aufruhr mehr zu erahnen als zu sehen. Das Schaufenster eines Schuhgeschäfts war eingeschlagen, Plünderer stiegen ein und aus, Schaulustige blieben stehen, andere versuchten fortzukommen, andere zögerten, ob sie zugreifen oder anständig bleiben sollten, und standen wie gebannt da, von außen drängten Gaffer und potenzielle Diebe ins Zentrum des Gedränges.
    Hélène hatte es einmal, anlässlich eines Freiluftkonzerts zum 14. Juli auf dem Platz der Republik miterlebt, dass betrunkene oder sonst außer Kontrolle geratene Jugendliche mutwillig Böller und Feuerwerkskörper in eine Menschenmenge warfen. Sie war mit Mühe und dem Schrecken und Ohrenklingeln davongekommen, hatte aber am nächsten Tag von den vielen im Gesicht Verletzten gelesen, von denen zwei das Augenlicht verloren hatten.
    Von irgendwoher ertönten Trillerpfeifen, und das Geräusch rennender Stiefel ließ die Erregung überschwappen wie ein hin- und hergeschwenktes volles Glas. Jetzt explodierten überall Böller, Rauch stieg in die feuchte Luft, die Leute begannen zu schreien, Panik griff um sich, irgendwo war jemand hingefallen und kreischte.
    Dem Amerikaner war es mit einem Mal, als habe er eine Brille aufgezogen, die alles sowohl klar und scharf kontrastierte, als auch viel langsamer, in Zeitlupe vor ihm ablaufen ließ und ihm Überblick, Konzentration und völlige Ruhe verschaffte. Er spähte über die Menge
hinweg, griff Hélène am Arm, und als ein Böller direkt vor ihre Füße fiel, so lang und so dick wie eine teure Havanna, legte er sein Gewicht aufs Standbein und schoss wie ein Fußballer, ohne eine Zehntelsekunde des Zögerns, mit dem anderen Fuß den Feuerwerkskörper weg, Richtung Straße, wo er, eine

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