Das Amulett der Pilgerin - Roman
waren. Eine Träne lief über Vivianas Wange, und sie zog unglücklich den Umhang fester um sich. Ihre Überlegungen wurden jedoch kurz darauf von der Frage unterbrochen, warum der Mörder den Leichnam der Frau nicht vergraben hatte? Vielleicht war es zu viel Arbeit gewesen, und er hatte nicht die Zeit dazu gehabt, grübelte Viviana. Aber wenn man einen Leichnam verschwinden lassen wollte, wäre es sicher sinnvoller, ihn irgendwo zu verscharren, als unter einem Strohhaufen zu verbergen, wo er früher oder später nichts ahnenden Reisenden einen gewaltigen Schreck einjagen würde. Es war inzwischen dunkel geworden, und außer den regelmäßigen Kaugeräuschen des Ponys war nichts zu hören.
Viviana starrte auf die Wand, hinter der die Leiche lag. Sie würde sich das alles morgen bei Tageslicht noch einmal ansehen. Die Frau musste ja irgendwo vermisst werden. Vivianas Gedanken wanderten zu Julian. Würde er überhaupt Nachforschungen anstellen? Der Gedanke, dass er vielleicht nicht nach ihr suchen könnte, war ihr bisher noch gar nicht gekommen. Er hatte ja sicher nicht unbegrenzt Zeit, seinen Auftrag zu verschieben. Viviana unterdrückte weitere Tränen. Sie war entmutigt und fürchtete sich, redete sie sich gut zu und wühlte in ihrer Tasche nach dem halben Brot, das sie als Proviant eingesteckt hatte. Es war natürlich nass und ein unappetitlicher, matschiger Klumpen geworden. Morgen würde alles anders aussehen, dachte sie und begann, ihr karges Abendmahl zu essen.
Als Viviana am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war es schon hell. Durch die vielen Spalten zwischen den Holzbrettern schien die Sonne und tauchte das Innere des Stalls in Streifen von Licht und Schatten. Sie stand auf und rieb sich ihren steifen Nacken. Das Pony schnaubte ungeduldig zur Begrüßung.
»Ich kann nicht sagen, dass ich dich besonders gut leiden kann«, sagte Viviana zu ihrem Reittier und schob die behelfsmäßige Tür beiseite. Das Pony drängte hinter ihr ins Freie und begann sofort, das von Tau bedeckte Gras zu fressen. Sie musste Wasser für das Tier finden. Es war noch früh, aber es würde wieder ein heißer Tag werden. Das Wichtigste zuerst, sagte sich Viviana und machte sich auf die Suche. Sie hatte Glück und entdeckte das kleine Rinnsal wieder, an dem sie gestern das Pony getränkt hatte. Nachdem sie das Tier und sich selbst versorgt hatte, ihre Sachen gepackt waren und es nichts anderes mehr zu tun gab, ging Viviana um die Bretterbude herum, um sich die Leiche nochmals anzusehen. Sie holte tief Luft und schob das Stroh von der toten Frau herab. Im hellen Sonnenschein erschreckte sie der Anblick nicht mehr so sehr wie am Abend, als sie müde und erschöpft gewesen war. Das Gesicht der Leiche glich einer Ledermaske. Hände und Füße waren dunkel verfärbt und ausgetrocknet. Mit einem Stock hob sie den Körper vorsichtig an. Ein Heer von wimmelnden Käfern und Larven wurde sichtbar, und der Gestank, der von der Unterseite der Leiche ausging, erzeugte bei Viviana einen Brechreiz. Angeekelt ließ sie die Tote wieder zurücksinken und trat ein paar Schritte zur Seite. Sie glaubte jedoch, gesehen zu haben, wie etwas Glänzendes von der Leiche weggerollt war. Viviana wühlte mit dem Stock in dem Heu und fand es schließlich. Es war ein silberner Knopf. Nachdenklich hob sie ihn auf. Mit diesen Knöpfen wurden Jacken und Mäntel verziert. Viviana ließ den Knopf in ihrem Beutel verschwinden. Jemand anderer musste die tote Frau bergen, sie wusste ja noch nicht einmal, was sie mit ihr tun sollte. Entschlossen häufte sie das Stroh wieder auf die Leiche und brach auf.
• 12 •
J ulian war den gesamten Weg zurückgeritten. Er hatte die Umgebung abgesucht an der Stelle, an der sie von dem Gewitter überrascht worden waren, aber es gab keine Spur von Viviana oder dem Pony. Ein altbekanntes Gefühl von Verzweiflung stieg in ihm auf. Er konnte sie doch nicht verloren haben, sie musste irgendwo sein! Hoffentlich war sie nicht verletzt. Es half nichts, er musste seine Suche für heute abbrechen, denn es würde bald dunkel werden, und er wollte das Pferd bei Einbruch der Nacht seinem Besitzer zurückgeben. Er würde es morgen noch einmal versuchen. Hungrig, müde und mutlos ritt Julian in der Dämmerung wieder auf den Hof. Ein hochgewachsener, rothaariger Mann kam ihm aus der Scheune entgegen. Das musste Harold, der Schwiegersohn von Paul, sein. Julian glitt vom Pferd.
»Sie haben Ihre Begleiterin nicht gefunden?«
»Nein.«
»Es ist
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