Das Amulett der Pilgerin - Roman
ihrem Gürtel hing. Der würde ihr gegen ein hungriges Wolfsrudel auch nichts nützen. Ihre Füße taten weh, das getrocknete Leder der Schuhe war steif und scheuerte an ihren Zehen. Sie hätte gerne eine Pause gemacht, aber sie musste das Licht ausnutzen, in der Hoffnung, doch noch einen Unterschlupf zu finden. Es war früher Abend, und die Schatten wurden immer länger. Gerade als Viviana sich damit abgefunden hatte, unter freiem Himmel schlafen zu müssen, entdeckte sie in einem Hain niedriger Bäume einen Unterstand. Es war eine ausgesprochen windschiefe Bretterbude, aber ihr Anblick ließ Viviana ein kleines Dankgebet gen Himmel schicken. Viviana band das Pony an einem der Bretter fest und blickte durch die Türöffnung. Die eisernen Türangeln waren aus den verrotteten Brettern gebrochen, und die Tür lehnte neben der Öffnung an der Wand. Im Inneren lag ein kleiner Haufen Stroh. Sonst war der Unterstand leer. Viviana trat wieder ins Freie und sattelte das Pony ab. Immerhin, es war besser als nichts und gab ihr die Illusion von Sicherheit. Vor einer Viertelstunde waren sie an einem kleinen Rinnsal vorbeigekommen, an dem sie das Pony getränkt hatte. Wenn sie jetzt noch etwas mehr Heu fände, wäre für das Tier gesorgt. Sie ging um die Bretterbude herum und hatte Glück. An die Nordseite lehnte sich eine Art Vordach, unter dem sich noch mehr Stroh befand. Es würde auch noch für ein bequemes Bett für sie reichen, dachte Viviana zufrieden und griff mit beiden Händen zu. Überrascht ließ sie den Arm voll Stroh wieder fallen. Ihre Finger waren gegen etwas Hartes gestoßen. Neugierig schob sie die Halme beiseite, bis dunkler Stoff zum Vorschein kam. Viviana zog daran und blickte plötzlich auf das grausige Antlitz einer Leiche. Mit einem Schreckensschrei fuhr sie zurück und bekreuzigte sich. Ihr Herz raste, als sie mit zitternden Knien vor den verwesten Überresten eines Menschen stand. Am liebsten wäre sie weggelaufen, aber wohin? Warum war Julian jetzt nicht bei ihr? Er wusste immer, was zu tun war. Unglücklich trat Viviana von einem Fuß auf den anderen. Es dauerte eine kleine Weile, ehe sie sich beruhigt hatte. Sie sollte feststellen, was es mit der Leiche auf sich hatte, sagte sie sich. Schließlich musste sie hier übernachten. Zögernd trat sie wieder näher an den Leichnam heran. Was sollte sie tun? Widerwillig wischte sie den Großteil des Strohs von dem Körper herab und erkannte, dass der dunkle Stoff Teil einer Nonnentracht war. Wieder bekreuzigte sich Viviana. Was machte eine tote Nonne hier mitten in der Einöde unter einem Haufen Stroh? Dem Zustand der Frau und ihres Gewandes nach zu urteilen, war sie schon eine Weile tot. Viviana starrte auf die mumifizierte Gestalt vor sich. Sie musste einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein. Erneut griff Viviana nach dem Dolch an ihrer Seite und sah sich um, als wenn der Mörder noch hinter den Büschen lauerte. Wieder wünschte sie sehnlichst, dass Julian hier wäre. Viviana fuhr sich mit der Hand über die Augen. Sie musste sich konzentrieren. Es würde bald dunkel sein, und sie konnte jetzt nichts weiter tun. Sie häufte etwas Stroh zurück auf das Gesicht der Toten, klaubte dann einen Armvoll zusammen und trug es in die Bretterbude. Sie hatte kein Bedürfnis mehr, sich daraus ein weiches Lager zu bauen, und warf es für das Pony in eine Ecke. Dem Tier würde es gleichgültig sein, dass eine Leiche unter seinem Futter verborgen gewesen war. Missmutig grub Viviana mit einem Fuß in dem kleinen Haufen, der in dem Unterstand gelegen hatte. Nicht, dass sie noch etwas Schreckliches finden würde. Aber es fand sich nichts. Sie führte das Pony in den Unterstand und schob die Tür vor den Eingang. Nachdem sie sich in ihren Umhang gewickelt hatte, setzte sie sich in eine Ecke und starrte vor sich hin. Vielleicht war die Frau auch gar nicht ermordet worden, sondern hatte sich verirrt, war verletzt und dann schließlich hier gestorben? Nein, das war Unsinn, sie hätte Schutz in der Bretterbude gesucht, anstatt sich draußen unter das Vordach zu legen. Immerhin war die Leiche noch intakt, soweit sie das erkennen konnte, was zumindest die Anwesenheit von einem Rudel Wölfe in dieser Gegend unwahrscheinlich machte. Wieder durchflutete die Sehnsucht nach Julian ihren Körper. Was, wenn sie sich nicht wiederfänden? Sie war allein mit einer Leiche. Und sicher gab es hier auch Wiedergänger von all den verdammten Seelen, die in den umliegenden Mooren versenkt worden
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