Das Amulett der Pilgerin - Roman
Dorf führte. Als sie auftauchte, kam eine Schar neugieriger Kinder angelaufen, deren Lärm auch eine Frau aus einer der Strohdachhütten blicken ließ.
»Guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?«
Viviana stieg ab und trat an das Fenster.
»Ja, ich habe mich verirrt. Wo bin ich hier bitte?«
»Sie sind in Westerfield. Wir gehören zu Amesbury.«
Nachdem sich in Vivianas Gesicht kein Erkennen zeigte, fügte die Frau hinzu: »Amesbury. Das Kloster Amesbury.«
Sofort dachte Viviana an die tote Nonne unter dem Stroh.
»Ja, da möchte ich gerne hin. Ist es noch weit?«
»Nein, nicht sehr weit. Folgen Sie nur dem Weg, der führt Sie direkt dorthin.«
Viviana stieg wieder auf.
»Wollen Sie nicht eine kleine Rast machen und ein Bier trinken? Es sind trotz allem noch fünf Meilen.«
»Nein, vielen Dank.« Zwar war sie durstig und hungrig, aber die beiden Männer gehörten möglicherweise zu diesem Dorf, und sie wollte ihnen nicht wieder begegnen. Zügig trabte sie in Richtung des Klosters Amesbury. Wahrscheinlich gab es dort ein Gästehaus, und sie wäre erst mal in Sicherheit. Außerdem musste sie die Sache mit der Leiche melden. Wie die Frau vorausgesagt hatte, tauchten nach etwa fünf Meilen die Häuser einer größeren Anlage auf. Die Gebäude waren aus Stein und schienen schon älter zu sein. Ein neuerer Anbau bestand aus Holz, und alles war von einer mannshohen Steinmauer umgeben. Vor der Mauer gab es einige Hütten und Gärten. Viviana erreichte den Eingang, das Tor stand offen. Erfreut stellte sie fest, dass es sich um ein Nonnenkloster handelte, und der schwarzen Tracht nach zu schließen waren es Benediktinerinnen.
»Gott zum Gruß!« Die Pförtnerin kam aus dem kleinen Unterstand.
Viviana grüßte ebenfalls und stieg ab. »Ich bitte um ein Nachtquartier. Während eines Gewitters wurde ich von meinem Mann getrennt und irre seit gestern alleine umher.«
»Oh! Sie Arme. Selbstverständlich werden Sie bei uns Zuflucht finden.«
Die Pförtnerin winkte einen Stalljungen heran, der das Pony in Empfang nahm. Die Ankunft einer Fremden war eine willkommene Abwechslung, und Viviana sah, wie einige Nonnen im Hof in ihrer Arbeit innehielten und sie neugierig betrachteten. Mit Arbeitsdisziplin schien man es hier nicht so genau zu nehmen, schoss es Viviana durch den Kopf. Sie wurde von der Schwester Wirtschafterin in Empfang genommen und in eines der niedrigen Seitengebäude geführt, die sich der Kirche anschlossen. Ihre Zelle war mit einem ebenerdigen Strohlager, einem Hocker und einer Kerze möbliert. Der Stalljunge brachte ihr Gepäck.
»Man wird Ihnen in der Küche etwas zu essen geben.«
»Danke sehr.«
Die Wirtschafterin wandte sich zum Gehen.
»Da ist noch etwas. Ich möchte um eine Audienz bei der Mutter Oberin bitten.«
Die kräftigen Augenbrauen der Schwester hoben sich überrascht.
»Natürlich. Ich werde Ihre Bitte vortragen. Mutter Beatrice wird aber wohl erst nach der Vesper Zeit haben.«
Etwa zwei Stunden später saß Viviana einer fülligen Frau in den besten Jahren gegenüber, an deren dicken Fingern erstaunlich viele Ringe steckten. Die Fingernägel waren sorgfältig poliert und überraschend lang.
»Was kann ich für dich tun, meine Tochter?«
»Wie Ihnen sicher schon berichtet worden ist, wurde ich von meinem Mann getrennt und habe mich verirrt. Letzte Nacht habe ich in einem verlassenen Unterstand übernachtet, und dort habe ich eine Leiche gefunden.«
»Eine Leiche?«
»Wird hier jemand vermisst?«
Die kleinen, wasserblauen Augen der Äbtissin glänzten wie Perlen. Plötzlich kam sie Viviana fast abweisend vor.
»Warum fragst du das, meine Tochter?«
»Die Leiche trägt eine Nonnentracht.«
Die Äbtissin bekreuzigte sich.
»Das ist wahrlich schlimm! Erzähle mir alles ganz genau.«
Viviana gab einen detaillierten Bericht über ihren Fund ab. Die Äbtissin klopfte mit ihren langen Fingernägeln nervös auf die Tischplatte.
»Nein, keine unserer Schwestern wird vermisst. Sie könnte aus Shaftesbury kommen. Es ist nur knapp dreißig Meilen von hier in südwestlicher Richtung. Von dort sind Sie ja gekommen. Sicherlich wissen Sie, dass diese Abtei um einiges größer ist als wir es sind. Ich werde mich darum kümmern.«
»Wenn Sie die Leiche bergen wollen, sollte ich Ihnen vielleicht den Weg zeigen?«, bot Viviana verdutzt an, als sie begriff, dass die Audienz offenbar zu Ende war.
»Ja.« Mutter Beatrice zögerte. »Haben Sie denn Zeit dafür?«
»Selbstverständlich.«
»Gut,
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