Das Amulett der Pilgerin - Roman
zu reiten, in der Hoffnung, dort eine Nachricht von Simeon vorzufinden. Julian und sein Freund hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, sich gegenseitig über alle wichtigen Interna der Geheimen Kanzlei zu informieren. Dafür hatten sie an den üblichen Reiserouten Orte ausgewählt, an denen der andere auf seinem Weg vorbeikommen musste. Dies war ein ähnliches Prinzip wie das der Kanzlei, aber es funktionierte erheblich besser, da die Nachricht nicht durch die allgegenwärtige Bürokratie aufgehalten wurde. In der Vergangenheit hatten diese schnellen, privaten Nachrichten schon zu so manchen Erfolgen geführt, was ihrer beider Laufbahn zugutekam.
Julian spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen, die beiden anderen Shaftesbury allein absuchen zu lassen, aber wenn er schon Thorn den Südländer überließ, dann würde er ihm nicht auch noch dabei helfen, diesen zu finden. Nein, seit dem Gewitter war ihm endlich klar geworden, dass Viviana ihm wichtiger war als die Überprüfung einer Spur, sie war ihm wichtiger als ein Kurier, wichtiger als eine mögliche Verschwörung, wichtiger als der Kardinal und wichtiger als König Henry selbst! Es war endlich an der Zeit, mit der Vergangenheit abzuschließen und ein neues Leben zu beginnen. Er hatte viel Geld gespart und würde sich ein kleines Anwesen kaufen, um dort mit Viviana eine Familie zu gründen. Melchor Thorn konnte nach dem Kurier suchen, Julian würde nach Viviana Ausschau halten und sie auch finden.
• 13 •
D en ganzen Vormittag über begegnete Viviana keiner Menschenseele. Gegen Mittag machte sie eine Rast an einem großen Tümpel, um das Pony zu tränken und es grasen zu lassen. Sie aß den letzten Rest des trockenen Brotklumpens. Erfreulicherweise fand sie einige Beerensträucher und konnte so ihr dürftiges Mittagsmahl ein wenig aufbessern. Kurze Zeit später brach sie wieder auf.
Über Stunden hatte Viviana nur die Geräusche der Natur und ihres Ponys gehört, als plötzlich ein neuer Klang an ihr Ohr drang. Es waren Stimmen! Sie zügelte das Pony und lauschte. Eindeutig, sie hörte zwei Männer miteinander sprechen. Endlich Menschen! Viviana trieb das Tier an, umrundete den Ausläufer des Wäldchens und sah sich einem Haferfeld gegenüber, an dessen Rand zwei Männer saßen. Sie hatten ihre Sensen neben sich liegen und machten offensichtlich eine Pause von der Ernte, die jetzt, Mitte August, allmählich in Gang kam.
Viviana hatte in einiger Entfernung ihr Pony angehalten und grüßte die beiden Männer. Diese erwiderten den Gruß und standen auf.
»Ist hier ein Dorf in der Nähe?«, fragte Viviana freundlich.
»Hast du dich verlaufen, Mädchen?«
Die Antwort gefiel Viviana nicht und auch nicht der Blick, mit dem die beiden Landarbeiter sie musterten. Der eine streckte die Hand aus und lockte das Pony. Viviana zog die Zügel stramm.
»Ich möchte nicht stören, aber können Sie mir nun sagen, in welcher Richtung das nächste Dorf liegt?«
»Ho! Nun mal nicht so zickig. Wir tun dir ja nichts.«
Da war sich Viviana nicht so sicher und betrachtete den einen der beiden misstrauisch, als er näher kam.
»Es gibt hier mehrere Dörfer. In welches willst du denn?«
»In das nächste.«
»Bist du etwa ganz allein unterwegs, meine Hübsche?«
»Nein, bin ich nicht.«
»Sieht aber danach aus. Weißt du nicht, dass das gefährlich ist?«
Viviana wendete das Pony und stieß ihm die Hacken in die Flanken. Der Mann sprang nach vorn und erwischte einen der Zügel. Das Pony bäumte sich auf und hätte Viviana beinahe abgeworfen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der andere Kerl angerannt kam. Sie hatte plötzlich ihren Dolch in der Hand und stieß ihn in die Hand, die den Zügel hielt. Mit einem Schrei ließ der Mann los, und Viviana trieb das Pony im vollen Galopp durch das Haferfeld. Sie hörte, wie die Männer wüste Verwünschungen hinter ihr herbrüllten. Das war knapp gewesen. Als sie die andere Seite des Feldes erreicht hatte, zügelte sie das Tier und blickte nachdenklich auf den Dolch in ihrer Hand. Viviana konnte sich nicht erinnern, ihn gezogen zu haben. Sie glitt aus dem Sattel, wischte die blutige Waffe im Gras ab und steckte sie zurück in die lederne Hülle an ihrer Seite. Dann stieg sie wieder auf und folgte dem schmalen Trampelpfad, der von dem Feld in Richtung Osten führte. Hier musste es irgendwo eine Siedlung geben. Der Graspfad mündete in einen breiteren Feldweg, der nach einigen Windungen durch die Landschaft tatsächlich zu einem
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