Das Amulett der Pilgerin - Roman
dann halten Sie sich bitte morgen nach der Prim bereit.«
Fast könnte man meinen, dass die Äbtissin die Leiche einfach dort liegen lassen wollte, grübelte Viviana, als sie langsam über den Hof in den Garten ging. Es war ein schöner, warmer Abend, und das Aroma der intensiv duftenden Blumen und Kräuter lag schwer in der Luft. Sie hatte einfach behauptet, Julians Frau zu sein, weil sie dann nichts erklären musste. Als sie nach ihrem Namen gefragt worden war, hatte sie Viviana White gesagt. Tonlos formten ihre Lippen den Namen. Viviana White. Was Julian wohl von dieser seltsamen Angelegenheit und der merkwürdigen Reaktion von Mutter Beatrice halten würde? Sie dachte an sein Lächeln und das Blitzen in seinen grünen Augen. Wie sehr sie ihn vermisste! Viviana kam an die niedrige Holztür, die in die Kirche führte, und beschloss, erneut Gott zu bitten, dass Julian wohlbehalten zu ihr zurückkehren möge. Sie trat in den kühlen, dämmrigen Raum und setzte sich in eine der hintersten Bänke. Die Kirche war alt und die Ausstattung schlicht. Nur das Gestühl der Nonnen links und rechts des Altars war neuer und aufwändig gearbeitet mit den gedrechselten Ziersäulen und den Schnitzereien. Viviana faltete die Hände und begann zu beten. Sie bat Gott, dass er ihr das Gedächtnis wiedergeben möge, und um Julians Wohl und dass sie ihn wiedersehen würde. Sie ertappte sich dabei, mit Gott zu verhandeln: Er könnte ihr Gedächtnis behalten, wenn er ihr nur Julian wiedergeben würde. Unvermittelt ging eine Tür neben dem Altar auf, und zwei Nonnen kamen in die Kirche. Sie wechselten die Kerzen und glaubten sich allein, denn sie sprachen recht laut.
»Ich habe es genau gehört. Mutter Beatrice hat gesagt, dass die Fremde eine Leiche gefunden hat, die eine Tracht trägt.«
»Das kann doch dann nur Schwester Kendra sein.«
Viviana drückte sich tiefer in den Schatten der Steinsäule. Schwester Kendra? Hatte die Äbtissin nicht behauptet, es würde niemand vermisst?
»Ich habe gleich gesagt, das würde ein böses Ende nehmen, als sie wegen der Geschichte nach Shaftesbury gefahren ist.«
»Mir hat sie nichts erzählt!«
»Sie wollte sich beschweren, du weißt doch, wie sie war. Immer hat sie rumgeschnüffelt und gelauscht.«
Viviana fühlte sich ertappt und schickte augenblicklich ein kleines Reuegebet gen Himmel. Die beiden Schwestern waren fertig und verschwanden wieder durch die Seitentür. Viviana betrachtete nachdenklich die gefalteten Hände auf ihrem Schoß. Die Äbtissin hatte sie angelogen, das lag auf der Hand. Es hatte hier eine Schwester Kendra gegeben, die in Shaftesbury ein Geheimnis erfahren hatte. Das hatte sie mit großer Wahrscheinlichkeit ihrer Äbtissin erzählt, wenn sie es auch mit den anderen Schwestern geteilt hatte. Und diese Schwester war verschwunden. Viviana stand auf. Sie wollte mehr wissen. Vielleicht war die gut informierte Schwester auch ihr gegenüber so mitteilsam. Sie ging zurück in den Garten und traf dort jedoch auf die andere der beiden Nonnen, die jetzt Blumen für den Altar schnitt. Als sie Viviana sah, hielt sie mit ihrer Arbeit inne und winkte sie zu sich herüber.
»Ich habe gehört, dass Sie eine Leiche gefunden haben, stimmt das?«, fragte sie neugierig.
Viviana nickte.
»Wir hatten hier eine Schwester, die vor ein, zwei Monaten verschwunden ist!«
»Tatsächlich? Ein Unfall womöglich?«
Die Nonne schüttelte den Kopf.
»Nein, ich bin mir sicher, dass sie ermordet wurde!«, flüsterte sie. Viviana machte ein schockiertes Gesicht und amüsierte sich gleichzeitig darüber, mit welcher Selbstsicherheit die Frau ihr die Geschichte erzählte, die sie selbst erst fünf Minuten zuvor von ihrer Mitschwester erfahren hatte. So entstanden Gerüchte.
»Ermordet?«
»Allerdings. Sie war nach Shaftesbury gereist, um sich zu beschweren. Kurz nachdem sie dann wieder hier war, kam dieser Mann und hat mit ihr gesprochen.«
»Wer war der Mann? Wie sah er aus?«
»Er kam auch aus Shaftesbury. Ich habe ihn nur kurz gesehen.«
»Ist Schwester Kendra denn einfach so verschwunden?«
»Nein, sie sollte mit dem Mann zurück nach Shaftesbury reisen, wollte aber in drei Tagen wieder hier sein.« Die Nonne machte eine dramatische Pause und flüsterte dann: »Aber sie ist nicht mehr zurückgekommen!«
Ehe Viviana weiterfragen konnte, kam eine ältere Nonne mit forschem Schritt in ihre Richtung, und die Schwester wandte sich eilig wieder ihren Blumen zu. Viviana zog es vor, ihren
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