Das Amulett der Pilgerin - Roman
musste eine Weile warten, bis eine der beiden diensthabenden Schwestern sich ihr zuwandte.
»Gott zum Gruß!«, sagte sie in einem Tonfall, der deutlich machte, dass diese Formel dutzende Male am Tag über ihre Lippen kam. Noch ehe Viviana antworten konnte, sagte die Schwester die Zeiten der Messen auf, die für die Pilger zugänglich waren, ohne auch nur einmal Luft zu holen.
»Verzeihung!«, unterbrach Viviana den geradezu übermenschlich langen Redestrom. »Ich bin auf der Suche nach ein paar Freunden von mir.«
Auch dieses Anliegen war nichts Neues für die Schwester, die mit resignierter Geduld die Augenbrauen hob.
»Der eine meiner Freunde ist sehr groß und dunkel. Er heißt Rinaldo della Rosa del Ranguano. Ist er vielleicht hier gewesen?«
Die Schwester schüttelte den Kopf.
»Und der andere heißt Julian White, er ist ein Beamter des Königs.«
Wieder schüttelte die Schwester den Kopf, und Vivianas Herz sank, als plötzlich eine etwas schleppende Stimme hinter ihr fragte: »Sie suchen Julian White?«
Sie drehte sich um und stand einem großen Mann in einem auffälligen Umhang gegenüber, der sie mit geradezu beleidigend gelangweiltem Blick betrachtete.
»Ja, Julian White. Kennen Sie ihn? Er arbeitet für die Schatzkammer des Königs.«
Melchor Thorn betrachtete die zierliche Frau vor ihm. Das musste die Frau sein, die White suchte. Seine blassen Lippen verzogen sich säuerlich. Plante White ein Schäferstündchen mit dieser dunklen Schönheit? Er selbst schätzte ebenfalls schöne Frauen, aber leider schätzten die Damen ihn nicht. Groß, dünn und mit schlechter Haltung, war Thorn nicht gerade gut aussehend. Sein Gesicht war ebenfalls länglich und hatte eine etwas gräuliche Farbe. Helle Augen von undefinierbarer Farbe und mausfarbene Haare taten das Übrige, nämlich nichts, um ihn begehrenswert erscheinen zu lassen. Seine bescheidenen Mittel konnten sein herrisches Auftreten nicht rechtfertigen, und so hielt Melchor Thorn nicht die Frauen im Arm, die er wollte, sondern nur die, die er sich leisten konnte.
»Sie kennen ihn?«
Die Hoffnung in ihrer Stimme verärgerte Melchor noch mehr.
»Allerdings. Und er hat gesagt, dass er für die Schatzkammer arbeitet, wie?« Er sah mit Genugtuung, wie ein Schatten über das hübsche Gesicht huschte.
»Und können Sie mir auch sagen, wo er ist?«
»Möglicherweise.«
»Möglicherweise?«
Er blickte sie provozierend an, und sie wurde ungehalten.
»Also, wollen Sie mir nun sagen, wo er ist, oder nicht? Wenn nicht, dann brauche ich hier auch nicht herumzustehen und mir Ihre dunklen Andeutungen anzuhören.«
Melchor zog überrascht die Augenbrauen hoch. Ihm gefielen temperamentvolle Frauen, er stellte sich dann vor, wie er sie zähmen würde. Aber richtig selbstbewusste Weiber konnte er nicht leiden, Schönheit hin oder her.
»Ich weiß nicht, wo er ist«, log er, denn er hatte sich den gesamten Vormittag darüber geärgert, dass Julian nach Salisbury geritten war und nicht bei der Suche nach Rinaldo hatte helfen wollen. »Irgendwo in der Stadt, nehme ich an, oder er ist schon abgereist. Was weiß ich.«
Er ließ sie stehen und ging zu den Stallungen. Emmitt hatte herausgefunden, dass der Südländer heute sehr früh Shaftesbury durch das Osttor verlassen hatte. Jetzt hatte er einen guten halben Tag Vorsprung, und sie mussten sich beeilen.
Viviana starrte ihm wütend hinterher. Ihr Stolz verbot ihr, ihm nachzulaufen. Am liebsten hätte sie ihm einen Stein ins Kreuz geworfen. Unschlüssig blickte sie sich um. Julian sollte irgendwo in der Stadt sein oder eben auch nicht. Und was hatte der Mann mit seiner Frage gemeint? Hatte Julian sie belogen, und er stand gar nicht im Dienste des Königs? Sie musste nachdenken und sich einen Plan machen, was sie am besten als Nächstes tun sollte. Menschen strömten zur Mittagsmesse in die große Kathedrale, und Viviana schloss sich dem Zug an. Sie fand auf einer der hinteren Bänke Platz, eingezwängt zwischen einem Ehepaar unbestimmten Alters, das offenbar nicht das Bedürfnis verspürte, nebeneinanderzusitzen. Der Gottesdienst begann, aber Viviana hatte keine Augen für die beeindruckende Kirche oder die prachtvolle Zeremonie. Sie wünschte, sie hätte den unangenehmen Kerl in dem hässlichen Umhang nicht einfach so gehen lassen. Er war ihre einzige Spur gewesen. Warum hatte sie sich von ihrem Stolz zurückhalten lassen, ihn noch einmal zu fragen? Viviana seufzte hörbar, und die Frau neben ihr blickte sie
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