Das Amulett der Pilgerin - Roman
für eine Frau, und wahrscheinlich brennt deshalb auch gerade der Braten in der Küche an.«
Mister Bartholomeus hatte in dem Gasthaus, in dem sie schließlich das versprochene deftige Abendmahl zu sich genommen hatten, einen Bekannten getroffen. Die Unterhaltung drehte sich von da an um die gänzlich unangemessene Besteuerung von Handelsgütern und die viel zu hohen Preise von Importwaren und wurde mit zunehmendem Alkoholgenuss immer leidenschaftlicher und auch unlogischer. Viviana hätte sich gerne noch nach Julian und Rinaldo erkundigt, aber es wurde bereits dunkel, und sie wollte abends nicht allein unterwegs sein. Einmal davon abgesehen, dass sie es für ihre Pflicht hielt, Mister Bartholomeus sicher wieder zu seinem Wagen zurückzubegleiten. Die Glocke der Abtei hatte die Nonnen bereits zur Komplet gerufen, als sie endlich die Schenke verließen. Mister Bartholomeus hing schwer an Vivianas Arm und schmetterte mit Inbrunst ein Volkslied nach dem anderen, was ihnen in den schmalen Straßen mit den dicht gedrängten Häusern allerlei Verwünschungen einbrachte. Ein paar Mal bemerkte Viviana aus dem Augenwinkel unheimliche Gestalten, die sich in den Hofdurchfahrten herumdrückten. Für diese Galgenvögel wäre Mister Bartholomeus ein leichtes Opfer gewesen. Doch obwohl sie ihn nicht allein gegen einen Dieb hätte verteidigen können, konnte sie um Hilfe schreien. Das machte einen Überfall viel unwahrscheinlicher, da einer der Nachtwächter in der Nähe sein könnte. So erreichten sie das Stadttor unbeschadet. Inzwischen war die Sangeslust ihres Begleiters erschöpft, und Viviana hatte Schwierigkeiten, den zunehmend schlaffer werdenden Körper vorwärtszuschieben.
»Na, Miss, Ihr Vater hat wohl einen über den Durst getrunken.«
Der Wachposten öffnete ihr die Holztür für Fußgänger, die sich in dem großen Tor befand, das jetzt für die Nacht geschlossen war.
»Immerhin singt er nicht mehr.«
Der Wachposten lachte und verriegelte die Tür hinter ihr. Gott sei Dank war es nicht weit bis zu der Stelle, an der sie den Wagen und den Jungen zurückgelassen hatten. Auf ein lautes Klopfen hin tauchte das verschlafene Gesicht des Helfers auf. Als er den Zustand seines Herrn bemerkte, verdrehte er die Augen und kletterte vom Wagen herunter.
»Wir werden ihn nicht in den Wagen kriegen.«
Viviana ließ Mister Bartholomeus los, der mit einem Seufzer zu Boden glitt. Die Nacht war warm, und um sie herum lagen viele Menschen neben oder unter ihren Wagen, in ihre Umhänge eingewickelt. Der Junge nahm eine Decke und warf sie über die leblose Gestalt seines Meisters, der sofort eingeschlafen war. Dann blickte er Viviana zögernd an und fragte schließlich: »Wollen Sie im Wagen schlafen?«
Obwohl sie sah, dass ihm eine andere Antwort lieber gewesen wäre, nickte sie.
»Ja, das wäre nett. Danke schön.«
Wenig später streckte sie sich inmitten des umfangreichen Warensortiments aus und schloss erschöpft die Augen.
Am nächsten Morgen wurde Viviana von dem Blöken eines Esels geweckt, der sich beharrlich und lautstark weigerte, mit dem ihm aufgebürdeten Gepäck auch nur einen Schritt vorwärtszugehen. Sie öffnete die Tür und streckte sich. Mister Bartholomeus lag noch genauso da, wie er in der Nacht zu Boden geglitten war, und schlief noch immer tief und fest. Der Junge war nirgends zu sehen. Viviana nahm den Wasserkrug und stellte sich in die Schlange am Brunnen. Viele der Pilger, die in der überfüllten Stadt kein Bett mehr bekommen hatten oder sich von vornherein keine Schlafstatt leisten konnten, hatten sich vor den Stadttoren niedergelassen. Die Vorstadt hatte sich darauf eingerichtet, und man konnte für ein kleines Entgelt sein Lager aufschlagen und Wasser aus dem Brunnen holen. Nachdem sie sich Gesicht und Hände gewaschen und ihre Zöpfe sorgfältig unter ihr Kopftuch gesteckt hatte, beschloss sie, Frühstück zuzubereiten. Das Inventar von Mister Bartholomeus bot zwar eine erstaunliche Auswahl an nützlichen und weniger nützlichen Dingen, jedoch waren Lebensmittel nicht darunter. Vielleicht ging der Händler zum Essen immer in eine Gaststube? Wieder wurde ihr schmerzlich bewusst, wie hilflos und abhängig sie ohne Geld war. Sie konnte sich nicht einmal ein Frühstück kaufen. Der Junge kam zurück, brachte ein Brot und einen Streifen Speck mit.
»Sollen wir ihn wecken?«, fragte Viviana und wies auf Mister Bartholomeus.
»Bloß nicht.«
Viviana beobachtete ihn, wie er ein kleines Feuer entfachte,
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