Das Amulett der Pilgerin - Roman
Vorteil. Das hatte ich nicht bedacht. Ich erkenne jetzt die verborgenen Reize einer Steuerprüfung.«
»Ich finde, dass ich bei dieser Betrachtungsweise extrem schlecht wegkomme«, beschwerte sich Julian.
»Wenn du besser dastehen willst, musst du eben einen Beruf wählen, bei dem du täglich dein Leben aufs Spiel setzen kannst. Das ist sehr heldenhaft und überhaupt nicht langweilig.«
»Aber generell ein bisschen kurzlebig.«
»Nicht, wenn man den richtigen Beruf hat.«
»Und welcher wäre das?«
»Vorkoster.«
Er blieb stehen und guckte sie verdutzt an.
»Ich habe mir sagen lassen, die leben auch sehr gefährlich und entwickeln sogar, wenn sie Glück haben, einen ordentlichen Leibesumfang.«
»Tatsächlich, wer hat dir das erzählt?«
Das fröhliche Lächeln auf ihren Lippen verschwand, und sie verstummte plötzlich. Wieder stand dieser seltsame Ausdruck in ihren Augen. Der Moment wurde von einem Fuhrwerk unterbrochen, das sich mühsam durch die enge Straße kämpfte. Sie stellten sich in eine Toreinfahrt, um das Ochsengespann vorbeizulassen.
»Ist es noch weit?« Viviana schien sich plötzlich zurückzuziehen. Was hatte er gesagt, das sie verstört hatte?
»Nein, wir sind gleich da«, erwiderte er leichthin und ging etwas schneller. Sie erreichten den großen Domplatz, der sich unmittelbar vor ihnen öffnete. Die Kathedrale glänzte golden im Abendlicht und bot einen spektakulären Anblick. Viviana blieb stehen.
»So stelle ich mir die goldenen Paläste im Morgenland vor.«
»Ich glaube nicht, dass sie dort tatsächlich mit Gold bauen.«
Viviana blickte Julian ob seiner ernüchternden Bemerkung vorwurfsvoll an.
»Ich kann nicht anders, das liegt an meiner Arbeit«, sagte er entschuldigend. »Gold wäre einfach zu teuer.«
»Unermessliche Schätze gibt es also nicht!«
Er schüttelte den Kopf.
»Alles lässt sich zählen.«
»Wie enttäuschend.«
Sie gingen über den Platz, und Julian erklärte: »Baubeginn war unter dem alten König Henry. Aber es kommt immer noch eine Kleinigkeit dazu.«
»Und was das alles kostet!«, bemerkte Viviana missbilligend.
Julian lachte.
»Du machst dich über mich lustig.«
»Nein, ganz und gar nicht.« Sie schüttelte so vehement den Kopf, dass ihre Zöpfe flogen, lächelte aber gleichzeitig. Sie erreichten die Kathedrale.
»Es ist sehr beeindruckend.« Viviana blickte an den massiven Türmen hoch.
»Wollen wir hineingehen?«, fragte Julian.
»Können wir?«
»Natürlich« – er griff an den eisernen Knauf –, »solange diese Tür nicht abgeschlossen ist.«
Viviana blickte sich um, als Julian die Tür öffnete.
»Viviana, du bist aber nicht sehr abenteuerlustig!«
»Natürlich bin ich das!«, antwortete sie empört.
Er zwinkerte ihr zu und machte eine einladende Geste. Es war kühl und dämmrig im Turm.
»Ich glaube, wir dürfen hier nicht sein«, flüsterte Viviana besorgt.
»Ach was. Wir klettern in den Turm hinauf. Ich bin gespannt auf die Aussicht.«
Sie stiegen die steinernen Stufen empor.
»Was, wenn wir jemandem begegnen?«
»Was soll schon groß passieren? Man wird uns wegschicken.«
»Ich dachte, du hältst dich immer an Regeln, Julian.«
Er drehte sich um.
»Ich hatte geglaubt, die Frage bezöge sich nur auf meinen Beruf.« Er lächelte Viviana unschuldig an. »Mein Privatleben ist selbstverständlich eine gänzlich andere Sache.«
»Ach so.«
Etwas außer Atem erreichten sie schließlich das obere Ende der Treppe und traten ins Freie. Unterhalb von ihnen lag die Stadt. Die Luft war ein bisschen dunstig, aber man konnte weit in das Umland sehen, das von der tiefstehenden Sonne in ein warmes Licht getaucht wurde.
»Na, habe ich zu viel versprochen?«, fragte Julian und drehte sich um. Das Abendlicht, das die Landschaft so wunderbar vergoldete, lag nun auf Viviana. Sie lächelte, und ihre ausdrucksvollen, dunklen Augen waren auf ihn gerichtet.
»Danke, dass du mich hierhergebracht hast.«
Julian hatte das überwältigende Gefühl, dass er in diesem Moment alles für sie getan hätte. Sie blickten eine Weile schweigend hinunter auf die Stadt.
»Guck mal, ist das Rinaldo?«
Julian kniff die Augen halb zusammen, und sein Blick folgte Vivianas ausgestreckter Hand, die nach unten zeigte. Ja, das könnte er sein. Er war ziemlich weit entfernt, aber er befand sich in einer Straße, die gerade von dem Domplatz wegführte und daher gut einsehbar war. Viviana wandte sich zum Gehen.
»Wir sollten lieber gehen, ich will nicht, dass er
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