Das Amulett
konnte.
Der Graf blickte auf die Gemälde an der Wand seines Arbeitszimmers, von wo ihn die Ahnenreihe der Herren von Totenfels anstarrte. Er hatte gehofft, eines Tages ebenfalls an dieser Wand zu hängen und von seinen Kindern und Kindeskindern betrachtet zu werden. Aber er war sich der traurigen Wirklichkeit nur allzu bewusst, dass dieser Wunsch ohne seine geliebte Frau kaum mehr zu erfüllen sein würde. Alles, was ihm blieb, waren Eroberungen. Sich durch die Gründung des größten Reiches seit Throndimar, dem Einiger, für immer in die Lieder der Barden zu schreiben. Und vielleicht würde er doch eines Tages einer Frau begegnen, die seines Samens würdig war.
Allerdings würde Dergeron diesen Tag gewiss nicht mehr erleben.
* * *
»Gordan!«, rief Tharador voller Freude. Er war glücklich, den alten Magier wieder zu treffen. »Wie hast du uns gefunden?«
»Ich habe dich einmal gefunden, ich kann dich immer wieder finden, vergiss das nicht, Tharador«, antwortete der Magier mit seiner warmen Stimme. »Und die Auswirkungen deines Kampfes gegen Xandor waren wohl in ganz Kanduras zu spüren. Doch ...«, seine Stimme wurde plötzlich ernst, »... was hatte ich dir damals in Faerons Heimat aufgetragen? Du solltest das Buch finden und zerstören.«
»Es war zu gefährlich. Es wäre am Ende vermutlich Xandor in die Hände gefallen«, entgegnete Tharador.
»Und bei eurem waghalsigen Unterfangen hättet ihr alle sterben können. Dann wäre niemand mehr da gewesen, der es jemals mit Xandor hätte aufnehmen können.«
»Du verstehst nicht –«, setzte Tharador an.
»Nein, du verstehst nicht!«, unterbrach ihn Gordan barsch. »Du bist ein Paladin, der Sohn eines Engels, aber du bist nicht unsterblich. Und du bist noch weit davon entfernt, dich mit solch mächtigen Gegnern messen zu können.«
»Xandor wusste, dass wir kommen. Er hat mich auf dieselbe Weise gesehen wie du. Er hat es gespürt und war vorbereitet.«
Erstaunt über diese Neuigkeit, zog Gordan die Augenbrauen hoch.
»Wir hätten ihm das Buch direkt in die Hände gespielt«, fuhr Tharador fort.
Der alte Magier legte die Stirn in Falten und schien über die Worte nachzudenken. »Vielleicht hast du Recht«, lenkte Gordan mit einem Achselzucken plötzlich ein. »Ich bin alt und ungeduldig. Ich warte nun schon seit drei Jahrhunderten darauf, dass jemand kommt, der die Macht besitzt, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen«, gab er zu. »Und ich glaube, du bist dieser Jemand, Tharador. Du bist deinem Vater sehr ähnlich.«
»Im Moment gibt es Wichtigeres«, lenkte Tharador ab. Er mochte das Gerede über seine Kräfte nicht. Und er fürchtete sich vor den Erwartungen, die Gordan in ihn setzte. Werde ich sie erfüllen können? Doch er wischte derlei Gedanken beiseite und erzählte Gordan stattdessen in knappen Worten von ihrem Kampf gegen Xandor und Ul‘goths selbstlosem Einsatz.
Gordan nickte stumm und lächelte dann gutmütig: »Du besitzt also tatsächlich die Fähigkeit, auch Grau zu sehen.«
Tharador verstand die Anspielung auf seinen Vater, denn Faeron hatte ihm einmal erzählt, dass es für Throndimar nur Gut oder Böse – Schwarz oder Weiß – gegeben hatte, und er bedankte sich bei Gordan mit einem leichten Kopfnicken.
»Ich werde sehen, wie ich euch noch von Nutzen sein kann, doch jetzt muss ich mich erst ein wenig ausruhen«, sagte der Magier.
Tharador beschlich ein mulmiges Gefühl, als er die Tür zu Xandors ehemaligem Arbeitszimmer öffnete und Gordan sorglos eintrat. Der Magier wollte die alten Gemächer seines einstigen Schülers bewohnen, doch die Gründe dafür hatte er nicht genannt. Schließlich war der Paladin zu dem Schluss gekommen, dass – sollte von Xandor noch eine Bedrohung ausgehen – sie alle sicherer wären, wenn Gordan in unmittelbarer Nähe zum Wirkungsort des verblendeten Magiers weilte. Allerdings hatte Gordan ihm versichert, dass von der vergrabenen Asche des Toten keine Gefahr mehr ausging.
»Erzähl mir mehr von meinem Vater«, forderte Tharador ihn plötzlich auf. Der Paladin stand noch immer in der Tür des kleinen Raumes und blickte den Magier bittend an.
»Throndimar war der mutigste Mann, der mir je begegnet ist. Doch ich überlege gerade, ob du noch mutiger bist als er oder nur töricht«, sagte Gordan mit einem Schmunzeln.
»Ja, es war gewagt, Xandor direkt anzugreifen«, räumte der Paladin ein. »Aber wir haben gesiegt, und nur das zählt.«
»Haben wir das?«, murmelte Gordan vor sich hin. Es
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