Das Auge Aldurs 3 - Der Riva Kodes
durch den Urwald sowie von mächtigen Städten, die erobert und in Schutt und Asche gelegt wurden. Während einiges davon als primitive Übertreibung abgetan werden kann, muß man doch einräumen, daß ein Körnchen Wahrheit in den Berichten stecken könnte. Tolnedrische Expeditionen nach Nordnyissa unmittelbar nach der alornischen Invasion im fünften Jahrtausend bestätigten die Existenz von ausgedehnten, vom Urwald überwucherten Ruinenstädten sowie von kaum noch erkennbaren Straßen durch das dichte Unterholz. Wie auch immer die Wahrheit aussehen mag, die Marager rückten weiter vor und hielten nur inne, um nyissanische Tempel zu entweihen und ihre eigenen ekelhaften Riten auf den Altären des Schlangengottes zu zelebrieren.
Ein offensichtlicher Bezug auf die Ruinen von Angkor Wat in Kambodscha.
Als die maragischen Heeressäulen sich näherten, flohen Königin Salmissra und ihr Anhang aus der Stadt Sthiss Tor und suchten in den Urwäldern des Südens Zuflucht. Die Marager sahen sich mit der Tatsache konfrontiert, daß sie eine leere, von verlassenen Feldern umgebene Stadt erobert hatten.
Zu diesem Zeitpunkt kam es zu einem der ungeheuerlichsten Vorfälle in der Geschichte des Kriegswesens. Nachdem die Marager die Stadt über eine Zeitspanne von vielleicht zehn Tagen besetzt gehalten hatten, erkrankten die Soldaten und starben in erschreckender Zahl. Die flehentlichen Bitten um Nahrung – nach Maragor geschickt von maragischen Armeebefehlshabern, die inmitten einer fruchtbaren, vor nicht abgeerntetem Getreide strotzenden Ebene lagerten – beweisen zur Genüge, was vorgefallen war. Bevor sie ihre Hauptstadt aufgaben, hatten die Nyissaner systematisch sämtliche Nahrung im Umkreis der Metropole vergiftet. Sie hatten sogar mit Hilfe von Mitteln, die nur sie kennen, Früchte und Gemüse ungenießbar gemacht, das noch an den Bäumen hing oder auf den Äckern wuchs. Das zurückgelassene Vieh hatten sie mittels einer Technik vergiftet, die jede Einbildungskraft übersteigt, so daß die Tiere gesund blieben, jeder, der von ihrem Fleisch aß, jedoch elendiglich starb.
Eine dezimierte und halb wahnsinnige Truppe aus wenigen mitleiderregenden Überlebenden taumelte aus dem Urwald hervor und zurück nach Maragor, die Leichen ihrer Toten zurücklassend. Auch wenn es sich lediglich um eine Vermutung handelt, so wird man doch zu Recht annehmen dürfen, daß die Nyissaner aus der Lektion der maragischen Invasion ihre Lehren zogen. Die Straßen (wenn es denn Straßen gewesen sind) machten es jeder Invasionsarmee leicht, den Urwald zu durchqueren.
Also ließ man die Straßen verfallen, und der Dschungel holte sie sich zurück. Da die Nyissaner kein sonderlich fruchtbares Volk sind (ihr Drogenkonsum behindert ernsthaft jegliche Fortpflanzungsaktivitäten), stellen Städte nur größere Menschenansammlungen dar, die einem Überraschungsangriff zum Opfer fallen können. Es bestand die Gefahr, daß die ohnehin geringe Bevölkerung durch wenige solcher Angriffe so sehr dezimiert wurde, daß ein Aussterben drohte. Daher war es aller Wahrscheinlichkeit nach ein Erfordernis der Staatsräson, die Bevölkerung weiträumig auf kleine Städte und Ansiedlungen und sogar Dörfer zu verteilen – natürlich mit Ausnahme der Hauptstadt. Und nun erkennen wir die Wahrheit des Sprichworts: Geschichte ist das Produkt des Krieges. Hätte es keine maragische Invasion gegeben, hätte Nyissa sich möglicherweise in eine vollkommen andere Richtung entwickelt. Städte hätten sich aus dem Boden erheben und der Urwald gerodet werden können, doch es sollte nicht sein. Das Motto über dem Portal zum Thronsaal von Königin Salmissra in Sthiss Tor spricht Bände: »Die Schlange und der Wald sind eins.« Die Dschungel Nyissas sind die Zuflucht und der Schutz des Schlangenvolkes, und wir dürfen nicht davon ausgehen, daß diese Urwälder je gerodet werden.
In der Regierungszeit von Ran Horb II. aus der Ersten Horbitischen Dynastie (den man auch den Architekten des Reiches nennt) wurde ein nachhaltiger Versuch unternommen, die üblichen Handelsabkommen mit den Nyissanern zu schließen. Vordal, ein Edelmann aus der Vordue-Linie der Kaiserlichen Familie, wurde mit der heiklen Aufgabe betraut, mit Königin Salmissra zu verhandeln. Seine Berichte liefern anschauliche und erschreckende Einzelheiten der tödlichen Intrigen, die am nyissanischen Hof vorherrschen. Jeder Adlige, Beamte oder Priester beschäftigt für gewöhnlich einen umfänglichen Stab von
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