Das Auge der Fatima
Vorsicht außer Acht lasse, doch es ist nur für heute, nur für diesen Tag.
Dann drehte Ali sich wie ein Derwisch einmal um sich selbst und klatschte laut in die Hände.
»Was haltet ihr zwei davon, wenn ich Mahmud befehle, alle Patienten fortzuschicken, und für den Rest des Tages meine Praxis schließe? Heute wird weder gearbeitet noch Trübsal geblasen. Heute feiern wir.«
»Hurra!«
Michelle riss ihre Arme hoch und klatschte ebenfalls in die Hände. Das kleine Mädchen strahlte vor Freude und hüpfte auf und ab wie ein Frosch. Ali sah Beatrice an. Sie schien kurz zu überlegen, dann lächelte auch sie.
»Gut«, sagte sie und nickte. »Heute werden wir feiern.«
Es hatte länger als sonst gedauert, Michelle dazu zu bewegen, ins Bett zu gehen. Und noch länger hatte es gedauert, bis Beatrice endlich ihr Zimmer verlassen durfte. Zu groß war die Angst des Kindes, dass Beatrice am nächsten Morgen nicht mehr da war. Sie hatte ihre kleinen Arme um ihren Hals geschlungen, sich an sie geklammert, geweint und gejammert, bis Beatrice sie endlich so weit beruhigt hatte, dass sie sich zudecken ließ. Und dann war sie noch so lange bei ihr geblieben, bis sie eingeschlafen war. Als sie endlich zum Turm hinaufstieg, wo Ali auf sie wartete, war Mitternacht schon vorüber.
»Ich wusste gar nicht, wie sehr ich es genieße, dieses Kind ins Bett zu bringen«, sagte Beatrice und trat neben Ali, der im schwachen Licht der Sterne kaum mehr war als ein schwarzer Fleck in der Dunkelheit.
»Ich weiß«, entgegnete er leise, ohne sie dabei anzusehen. »Ich danke Allah jeden Tag erneut für diese Gnade.«
Sie schwiegen. Beatrice wusste nicht, wie sie sich ihr Wiedersehen mit Ali vorgestellt hatte. Den ganzen Tag über hatten sie geredet und geredet und geredet, immer wieder unterbrochen von Michelle, die Beatrice das Haus vom Keller bis zum Dachboden gezeigt, ihr jeden Diener und jede Dienerin vorgestellt und alles erzählt hatte, was es aus Sicht eines knapp vierjährigen Mädchens zu erzählen gab. Für Nähe war bislang keine Zeit gewesen. Und jetzt standen sie nebeneinander, kaum eine Handbreit voneinander entfernt, und trauten sich nicht, sich zu berühren. Sie waren wie zwei Teenager bei ihrem ersten Date. Wenn Saddin jetzt an Alis Stelle gewesen wäre - ob er wohl auch so schüchtern wäre? Im gleichen Augenblick hätte sie sich für diesen Gedanken ohrfeigen können. Für sie waren lediglich vier Jahre verstrichen. Für Ali waren es siebzehn. Diese Zeitspanne muss- ten sie erst überbrücken. Und das war unter Umständen schwieriger und komplizierter, als eine Zeitreise mit einem der Steine der Fatima anzutreten. Sie mussten beide einfach Geduld haben.
»Es war hier«, sagte Ali plötzlich und, wie es schien, ohne jeden Zusammenhang. »Dort drüben, direkt neben der Tür.«
»Was?«
»Saddin.« Ali drehte sich um und trat ein paar Schritte auf die Tür zu. Beatrice folgte ihm. »Er ist hier gestorben - in meinen Armen.« Er holte tief Luft und blickte hinauf in den
Himmel, als wollte er nicht ihr, sondern den Sternen seine Geschichte erzählen. »Es war an jenem Abend, als er Michelle in mein Haus gebracht hat. Saddin erzählte mir, dass sie beide verfolgt würden. Von >Fidawi<, wie er sie nannte. Er bat mich, auf Michelle Acht zu geben, sie in mein Haus aufzunehmen, als wäre sie meine eigene Tochter.«
Beatrice hielt den Atem an. Saddin war zwar klug, doch woher hatte er das wissen können?
»Es war hier. Wir standen dort drüben an der Mauer. Genau dort, wo wir beide eben gestanden haben. Ich hatte ihm gerade gesagt, dass ich bei meinem Lebenswandel die Verantwortung für ein Kind nicht übernehmen könne, als sie plötzlich da waren. Sie kamen über die Mauer gekrochen wie zwei finstere Schatten, direkt aus der Hölle entstiegen.«
»Fidawi?«
Ali nickte. »Saddin zog sofort seine Schwerter und stellte sich den beiden entgegen. Und ich ...« Er brach ab, schluckte hörbar, als ob er einen zu großen Bissen im Mund hätte, der sich weder kauen noch hinunterschlucken ließ. »Er sagte, ich solle ins Haus gehen. Und das tat ich. Ich lief ins Haus.« Er senkte seinen Kopf. »Als ich nach einiger Zeit wiederkam, war es zu spät. Die beiden Fidawi waren bereits tot, und Saddin ...« Im Licht der Sterne konnte Beatrice erkennen, wie eine einzelne Träne an seiner Wange hinunterlief und sich in seinem Bart verfing, wo sie im Licht der Sterne funkelte wie ein winziger Diamant. »Er lebte noch, doch er war sehr schwer
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