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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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liebsten wäre er dem Muezzin an die Gurgel gegangen.
    »Richtig«, entgegnete Ali so kühl und sachlich wie möglich. »Da ich nicht einmal die Anzeichen einer Reizung in Eurem Mund finde, kann ich das nur vermuten.«
    »Könnte das Elixier, das Ihr mir gegeben habt, diese Veränderung hervorgerufen haben?«
    Ali hielt den Atem an, um nicht zu explodieren.
    Das Elixier hat dir deine Stimme, vielleicht sogar dein Leben gerettet, du dämlicher, vertrottelter Greis, dachte er. Doch er war lange genug Arzt, um sich auch in solchen Situationen unter Kontrolle halten zu können. Ständige Wiederholungen trainieren.
    »Wenn Ihr das Elixier nicht vertragen hättet, würdet Ihr bereits während der Einnahme unter Bauchgrimmen, Übelkeit, vielleicht sogar zu häufiger Darmentleerung gelitten haben. Doch selbst das sind Symptome, die einen Monat nach Beendigung der Behandlung längst abgeklungen wären. Solche Wirkungen jedoch, wie Ihr sie zurzeit beklagt, sind bei diesem Elixier ausgeschlossen.«
    »Wirklich?«
    »Ja, Ihr könnt mir glauben.«
    Der Muezzin runzelte unwillig die Stirn, so als hätte er nicht das erreicht, was er eigentlich mit seinem Besuch hatte erreichen wollen. Ali fragte sich, ob der Alte lieber von ihm gehört hätte, dass er nur noch wenige Tage zu leben hatte. Vielleicht hatte er ja insgeheim keine Lust mehr, jeden Morgen vor allen anderen Einwohnern der Stadt aufzustehen. Vielleicht wollte er nichts anderes als länger schlafen. Wenn er todkrank wäre, müsste man ihn dann nicht die verbliebenen Tage seines Lebens schonen? Oder vielleicht sah er sich aber auch in der Rolle des Märtyrers, der von allen bewundert wird, weil er trotz seiner tödlichen Krankheit, trotz seines furchtbaren und unabwendbaren Schicksals gewissenhaft seine Pflicht erfüllte?
    Ali trat zu seinem Arzneischrank und ging die Aufschriften auf den Flaschen und Kästen durch, während er überlegte, welches Kraut, welche Tinktur er dem Alten verordnen könnte. Schließlich blieb sein Blick auf einem Holzkasten haften. Camomilla officinalis. Das war die Lösung.
    »Ich gebe Euch eine Arznei mit, die schon bald Eure Beschwerden lindern und die Reizung mildern wird«, sagte Ali, wog einige Hand voll Kamilleblüten ab und schüttete sie in ein Baumwollsäckchen. »Aus einem Löffel voll Blüten lasst Ihr täglich einen Sud zubereiten, mit dem Ihr mehrmals am Tag Euren Mund ausspült. Sollten die Beschwerden in fünf Tagen immer noch nicht vollständig abgeklungen sein, so schickt einen Boten, damit ich Euch noch mehr geben kann.«
    Der Muezzin nahm das Säckchen und roch argwöhnisch daran.
    »Was ist das?«
    »Kamille. Ein vortreffliches Kraut, das jede Reizung innerhalb kürzester Zeit zur Abheilung bringt. Ich wende es sogar bei stark geröteten, geschwollenen Wunden und Hautausschlägen an. Außerdem ist es so mild, dass keinerlei unerwünschte Reaktionen zu erwarten sind.«
    »Und wenn ...«
    Ein Klopfen unterbrach den Muezzin in seiner Rede.
    »Du weißt doch, dass ich nicht gestört werden möchte«, sagte Ali unwirsch, als der blonde Schopf von Michelle im Türrahmen erschien. »Geh bitte, ich habe nachher Zeit für dich.«
    »Aber es ist wichtig«, entgegnete das kleine Mädchen mit einem strahlenden Lächeln. »Schau mal, wer gekommen ist!«
    Sie riss die Tür auf, und im nächsten Augenblick erstarrte Ali. Er wusste nicht, was er sagen oder tun sollte, wie er sich verhalten sollte,-ob er gerade träumte. Oder war er, ohne dass er es gemerkt hatte, gestorben, und dies war nun das Paradies? Dort, direkt vor seiner Tür, nur ein paar lächerliche Schritte von ihm entfernt, stand ... Er schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. Aber nein, das konnte nicht sein, das war nicht möglich, sie war nicht hier, sie lebte viele, viele Tagereisen entfernt in einem fremden Land - und natürlich auch in einer ganz anderen Zeit. Sie konnte niemals jetzt, in diesem Augenblick, hier sein und ihn anlächeln. Und doch, diese Frau, die in der Tür stand und ihn ansah, hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihr. Es waren ihre Augen, ihr Gesicht, ihr Lächeln. Oh, allein für dieses Lächeln wäre er mit Freuden in den Tod gegangen, hätte sich foltern oder bei lebendigem Leibe verbrennen lassen.
    »Wir wollten dich nicht stören«, sagte Beatrice. Ali rieselten beim Klang ihrer Stimme wohlige Schauer über den Rücken. »Du behandelst gerade einen Patienten. Wir kommen später wieder.«
    Bitte wiederhole diese Worte. Bitte sag sie noch

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