Das Auge der Fatima
verletzt. Eine Bauchwunde. Er blutete stark. Sein rechtes Bein war bereits kalt und gefühllos. Trotzdem ...« Er biss sich auf die Lippe. »Es hätte bestimmt eine Möglichkeit gegeben. Irgendetwas. Doch ich habe nichts für ihn getan. Gar nichts.«
Beatrice schloss die Augen. Zu deutlich sah sie die Szene vor sich, sah, wie Saddin langsam verblutete. Automatisch ging sie alle Optionen durch, fragte sich, ob sie Saddin hätte retten können. Alis Angaben nach zu schließen war vermutlich im Kampf seine Aorta an jener Stelle verletzt worden, an der sie sich in die beiden Beinarterien gabelt. Mit einer Notoperation und mindestens einem halben Dutzend Blutkonserven hätte man vielleicht sein Leben retten können - vorausgesetzt, dass die Blutgerinnung noch funktionierte und der Blutverlust noch nicht so groß war, dass seine Organe dadurch Schaden genommen hatten. Ob man jedoch das Risiko eingegangen wäre, ihm auch das Bein zu erhalten, das wagte Beatrice zu bezweifeln. So weit die Chancen, die Saddin im 21. Jahrhundert gehabt hätte, unter den Händen eines gut ausgebildeten, eingespielten Teams von Chirurgen, Anästhesisten und Schwestern auf einer modernen, mit allen technischen Möglichkeiten ausgestatteten Intensivstation. Hier in Qazwin allerdings hätte auch sie nicht mehr tun können, als Ali getan hatte.
»Es war nicht deine Schuld«, sagte Beatrice, doch Ali schien sie nicht zu hören. Er stand neben der Tür und starrte auf den Boden, als könnte er dort immer noch das Blut sehen.
»Jeden Tag, jede Nacht frage ich mich, ob ich das Richtige getan habe.«
»Das hast du«, sagte Beatrice, trat neben ihn und legte eine Hand auf seine Schulter. »Du konntest nichts mehr für ihn tun. Wahrscheinlich hat ein Schwertstreich die Aorta verletzt. Selbst zu Hause, in meinem Jahrhundert mit all unserer Technik und unseren medizinischen Möglichkeiten hätte er nur eine geringe Chance gehabt, diese Verletzung zu überleben. Und dann hätte man ihm vermutlich sogar noch das Bein amputieren müssen. Hättest du Saddin das antun wollen?«
»Aber ich habe ihn allein gelassen!«, rief Ali. »Statt gemeinsam mit ihm zu kämpfen, wie es meine Pflicht als Mann gewesen wäre, bin ich davongelaufen. Ich habe ihn im Stich gelassen.«
Beatrice nahm sein tränenfeuchtes Gesicht in ihre Hände und sah ihm in die Augen.
»Saddin hat dich fortgeschickt, Ali, und er wusste genau, was er tat. Er wusste, dass du gegen einen der Fidawi keine Chance gehabt hättest. Du bist Arzt, kein Krieger. Wärst du hier oben geblieben, du wärst ihm vermutlich nur im Weg gewesen und am Ende selbst auch noch gestorben. Außerdem ...« Beatrice presste die Lippen aufeinander, Tränen brannten in ihren Augen. »Er wusste, dass Michelle ihren Vater braucht.«
Für einen Moment sah Ali verwirrt aus. Dann endlich schien er zu begreifen, denn seine Augen leuchteten auf.
»Beatrice! Du meinst doch nicht etwa, dass ...«
»Doch, Ali. Michelle ist deine Tochter.«
Jede Farbe wich aus Alis Gesicht. Er starrte Beatrice an, als wäre sie ein Geist, und für einen Augenblick fürchtete sie, er würde ohnmächtig werden. Doch dann kehrte das Leben in ihn zurück. Er schlang seine Arme um sie und drückte sie so fest an sich, dass sie kaum noch Luft bekam. Er lachte und weinte gleichzeitig, dankte Allah und pries sein Glück. Und dann war sie wieder da, die Nähe, die tiefe Zuneigung, die sie vor Jahren verbunden hatte. Sie küssten sich.
Eng aneinander geschmiegt standen sie auf dem Turm und blickten zu den Sternen hinauf. Beatrice seufzte. Wie sehr hatte sie sich nach Ali gesehnt, nach seinen Umarmungen, seiner Wärme. Jetzt war es so weit. Und doch konnte sie es nicht wirklich genießen, sich nicht einfach diesem Glücksgefühl hingeben und ein ganz normales Leben führen. Es gab etwas zu erledigen. Sie hatten einen Auftrag zu erfüllen. Und da waren immer noch Hassan und die Fidawi.
»Wir müssen den Juden Moshe Ben Maimon aufsuchen, Ali«, sagte sie.
»Ja, ich weiß«, erwiderte er, und in diesem Augenblick wusste Beatrice, dass auch er gerade an die Steine der Fatima und die Gefahr gedacht hatte, die sowohl den Saphiren als auch ihnen selbst drohte. »Morgen werden wir zu ihm gehen, gleich nach dem Frühstück.«
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19.
D ie Sonne ging gerade auf, als sich Mustafa und Os- man der Stadt Qazwin näherten. Sie waren erst vor knapp zwei Tagen in Alamut aufgebrochen und seither ohne Unterbrechung geritten. Sie hatten nicht geschlafen und
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