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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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fehlt. Doch seit einiger Zeit spricht er nicht mehr.«
    Scheinbar ohne Übergang redete der Mann von dem Kind. Und doch gefiel Beatrice der Blick nicht, mit dem er Ali jetzt ansah. Keiner von ihnen kannte diesen Mann. Niemand wusste, woher er kam. Vielleicht war er wirklich nur das, was er zu sein vorgab - ein armer Hirte, der Hilfe für seinen kranken Sohn brauchte. Doch weshalb dann das Interesse für Alis Bücher? Natürlich konnte er ein Imam aus einem der armen, verstreut in den Bergen liegenden Dörfer sein. Das könnte sein merkwürdiges Verhalten durchaus erklären, denn die Geistlichen im Islam waren - ganz gleich, ob mittellos oder wohlhabend - grenzenlosen Respekt gewohnt. Allerdings hatte sie einen ganz anderen Verdacht. Schließlich war es die einfachste Sache der Welt, eine Krankheit wie die beschriebene vorzutäuschen. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Was hatte Saddin im Traum zu ihr gesagt? Die Fidawi würden sogar Frauen und Kinder für ihre Zwecke benutzen.
    Ali ging zu dem Jungen, um ihn zu untersuchen, während Beatrice den Vater nicht aus den Augen ließ und jede seiner Bewegungen genau beobachtete. Doch sie konnte nichts Auffälliges bemerken, keinen Dolch, der unter der Kleidung hervorschaute, keine verräterische Ausbuchtung eines Schwertgriffs.
    Nach einer Weile erhob sich Ali, schüttelte den Kopf und bat den Jungen, im Hof zu warten. Erst als der Knabe fort war, wandte er sich an den Vater.
    »Ich kann zurzeit keine Ursache für seine Erkrankung feststellen«, sagte er und ging zu dem Schrank hinüber, in dem er seine Arzneien aufbewahrte. »Doch ich weiß aus Erfahrung, dass Kinder oft auf schreckliche Erlebnisse mit Stummheit reagieren. Hier habe ich ein Fläschchen mit Orangenblüte- nöl. Gib jeden Abend ein paar Tropfen davon in eine Schüssel Wasser. Der Junge soll sich damit waschen. In den meisten Fällen ist der Schock nach einigen Wochen behoben, und der Junge spricht wieder genau wie früher.«
    »Herr, ich danke Euch«, sagte der Mann und verneigte sich vor Ali. Doch seine Unterwürfigkeit und Dankbarkeit kamen Beatrice falsch und gestellt vor. »Was schulde ich Euch?«
    »Nichts«, antwortete Ali. »Rechne es als Entschädigung für die ungebührlich lange und unbequeme Wartezeit.«
    Sie gingen hinaus in den Hof, wo der Junge neben dem alten Ziegenbock kniete, der dort an einer Säule festgekettet war, und ihm das Fell kraulte.
    »Du hast ihn immer noch?«, fragte Beatrice überrascht, und ohne auf den seltsamen Blick des Mannes zu achten, ging sie ebenfalls zu dem Tier. »Wie alt ist er denn mittlerweile?«
    »Fast achtzehn«, antwortete Ali und folgte ihr gemeinsam mit dem Mann. »Ein Hirte brachte ihn mir vor mehr als siebzehn Jahren aus Dankbarkeit dafür, dass ich seinen Sohn geheilt habe - von derselben Krankheit übrigens, unter der dein Sohn leidet. Ich konnte mich damals nicht dazu entschließen, ihn schlachten zu lassen. Ich verabscheue Ziegenfleisch. Und jetzt ist er alt, zäh, widerspenstig und zuweilen sogar richtig bösartig. Meine Köchin hat er noch vor gar nicht langer Zeit so geärgert, dass sie sich drei Tage lang nicht traute, den Hof zu überqueren. Doch dein Sohn scheint sehr gut mit ihm umgehen zu können.«
    »Ja«, antwortete der Mann. »Es steckt ihm im Blut. In unserem Dorf sind wir alle Ziegenhirten.«
    Er packte den Bock, der anscheinend noch nicht genau wusste, ob ihm die plötzliche Aufmerksamkeit gefallen sollte oder nicht, an einem Horn und schüttelte ihn. Empörtes Ge- mecker war die Folge. Wütend riss sich der Bock los, und der Mann musste hastig zur Seite springen, um sich vor den langen, spitzen Hörnern in Sicherheit zu bringen.
    Ali lächelte. Dann winkte er einen Diener herbei und befahl ihm, die beiden Hirten hinauszuführen.
    »Herr, ich danke Euch«, sagte der Mann noch einmal und verneigte sich wieder eine Spur zu tief, als dass Beatrice ihm Glauben schenken konnte. »Vielleicht wird Allah, der Allmächtige, unsere Wege eines Tages wieder kreuzen lassen. Und vielleicht haben wir dann Gelegenheit, über die unendliche Weisheit des Korans zu sprechen.«
    »Ja, vielleicht«, erwiderte Ali ohne Begeisterung.
    »Ich freue mich schon auf unsere nächste Begegnung.«
    Ali und Beatrice sahen ihnen nach, bis sich das Tor hinter ihnen geschlossen hatte.
    »Wer waren die beiden, Ali?«, fragte Beatrice. Sie spürte, wie sie vor Anspannung zitterte. Ihr war plötzlich kalt, als würde es gleich anfangen zu schneien. Hier in diesem Hof.

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