Das Auge der Fatima
Schritte zurückwich. »Ihr habt doch selbst erst vor wenigen Wochen befohlen, dass wir niemanden in Eurer Abwesenheit Zutritt zu Eurem Haus gewähren dürfen. Ihr habt es uns sogar bei schweren Strafen verboten, und Ihr habt auch ...«
»Ja, ja, schon gut.« Ali winkte ab, schüttelte den Kopf und fuhr sich noch einmal durch das Haar. »Dann lass sie eben jetzt herein. Wollen wir hoffen, dass sich noch etwas retten lässt.« Er warf Beatrice einen Blick zu. »Eigentlich gibt es jetzt wohl Wichtigeres zu tun, aber ...« Er zuckte hilflos mit den Schultern.
»Das ist eben unser Job, unser Beruf«, fügte Beatrice hinzu, als ihr einfiel, dass Ali mit dem Begriff Job wohl kaum etwas anfangen konnte. »Der Eid des Hippokrates. Du weißt schon.«
»Ja«, sagte Ali und seufzte, als würde er in diesem Augenblick wie Atlas das Gewicht der Welt auf seinen Schultern tragen. »Ich weiß. Begleitest du mich?«
Ohne zu zögern stimmte Beatrice zu. Das war beinahe wie früher, als sie gemeinsam in Buchara Patienten behandelt hatten. Jeden Tag hatten sie stundenlang über medizinische Fragen diskutiert. Und immer wieder hatten sie sich wegen Meinungsverschiedenheiten bezüglich einer Diagnose oder einer Therapie gestritten. Doch vor allem hatten sie voneinander gelernt. Ali hatte vieles über Anatomie, Physiologie und Pathologie erfahren, was man in seiner Zeit noch nicht wusste, und Beatrice hatte die Wirkung von Kräutern kennen und schätzen gelernt. Eine Form der Medizin, die sie bis zu diesem Zeitpunkt als antiquierten mittelalterlichen Hokuspokus und das Geschwätz esoterischer Spinner abgetan hatte.
Als sie gemeinsam Alis »Praxisräume« betraten - so konnte man wohl am ehesten den Bereich des Hauses bezeichnen, in dem er Patienten zu empfangen pflegte und seinen Studien nachging -, waren der Mann und sein Sohn schon dort. Der Junge, ein knochiger Bursche mit rabenschwarzen Locken, hockte in einer Ecke des Zimmers und sah ihnen so finster entgegen, dass Beatrice sich fragte, was sie ihm wohl getan hatten. Sein Vater hingegen, ein magerer, hoch gewachsener Mann, ärmlich, aber sauber gekleidet, stand vor Alis Bücherregal und hielt einen der kostbaren Bände in den Händen, als würde er darin lesen.
»Seid gegrüßt«, sagte Ali, und eine steile Zornesfalte erschien zwischen seinen Augenbrauen. Beatrice kannte diesen Blick. Seine Bücher waren ihm heilig. Und nichts hasste er mehr, als wenn sich jemand ohne sein Wissen und Einverständnis daran zu schaffen machte. »Hast du gefunden, wonach du suchst?«
»Oh, verzeiht«, sagte der Mann und stellte das Buch wieder ins Regal zurück, ruhig und sicher, so als würde er sich keineswegs bei einem Unrecht ertappt fühlen. Dann verneigte er sich. »Der Friede Allahs sei mit Euch.«
Ali nickte nur knapp.
»Es muss Euch ungehörig erscheinen, dass ich mir, ohne erst Eure Erlaubnis abzuwarten, eines der Bücher genommen habe, um darin zu lesen.«
»Tatsächlich?«
»Ja«, erwiderte der Mann gelassen. Vielleicht war ihm der beißende Spott in Alis Stimme entgangen. Allerdings hatte Beatrice eher den Eindruck, dass es ihn überhaupt nicht kümmerte. Das war merkwürdig. Normalerweise war sie von den Angehörigen der niederen Schichten mehr Unterwürfigkeit gewohnt. »Ihr habt sehr interessante Bücher in Eurer Sammlung, Herr. Offensichtlich seid Ihr ein Mann auf der Suche nach der Wahrheit. Doch wenn ich Euch einen Rat geben darf, werft diese Bücher alle fort. Sie werden Euch nichts nützen. Ein Mann bedarf nur eines einzigen Buches, um die Wahrheit zu finden.«
»Ich vermute, du sprichst vom Koran?« Ein seltsames Lächeln lag auf Alis Lippen, und Beatrice versteifte sich. Am liebsten hätte sie ihm zugerufen, den Mund zu halten, nichts mehr zu sagen, einfach nur noch zu schweigen. Ali konnte sich jetzt innerhalb weniger Sekunden in Gefahr bringen und um Kopf und Kragen reden. Doch sie wusste, dass es sinnlos gewesen wäre. Sie beide waren sich in vieler Hinsicht sehr ähnlich. »Nun, ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine Sichtweise nichts anderes ist als eine Sichtweise und damit eben nur ein Teil der Wahrheit. Nicht mehr und nicht weniger. Doch du hast mit deinem Sohn den weiten Weg sicher nicht auf dich genommen, um mit mir über die Weisheit des Korans zu plaudern. Was führt euch zu mir?«
»Mein Sohn, Herr«, antwortete der Mann und deutete auf den Jungen, der immer noch wie ein bockiges kleines Kind in der Ecke saß, »er ist krank. Wir wissen nicht, was ihm
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