Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
Vom Netzwerk:
Allah ihm zugedacht hat.«
    »Ja, nur scheint es, als ob manche Menschen schwerere Lasten zu tragen hätten als andere.«
    »Wirklich?« Saddin warf Ali einen kurzen Blick zu und sah dann auf seine Hände hinab. Er zog seine Augenbrauen zusammen, als ob er plötzlich Schmerzen hätte. »Ich habe dir nicht erzählt, dass bei den Kämpfen mit den Fidawi auch zwei Kinder gestorben sind. Einer meiner Söhne und meine Tochter. Sie war kaum älter als Michelle. Ich konnte sie nicht mehr retten. Die Fidawi waren zu schnell.« Er rieb sich die Stirn. »Natürlich hätte ich Michelle einfach dort lassen können, wo ich sie gefunden habe. Ich hätte uns - meiner Familie, meinen Männern und ihren Familien - viel Leid ersparen können. Aber ich tat es nicht. Soll ich mich jetzt etwa darüber grämen, mir die Haare raufen und vor Verzweiflung gegen die Brust schlagen, weil Allah mir einen Verstand und einen freien Willen gegeben hat und ich beides genutzt habe, um eine Entscheidung zu treffen? Eine Entscheidung, die mich vermutlich ebenfalls mein Leben kosten wird?« Er sah Ali an, und ein seltsames Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich bitte dich nicht darum, mir zu helfen, Ali al-Hussein. Ich werde dein Haus noch vor dem Morgengrauen wieder verlassen und hoffen, dass es mir gelingt, die Fidawi von Qazwin fort auf meine Spur zu locken. Ich bitte dich für Michelle, die Tochter von Beatrice. Nimm das Mädchen auf und gib ihm ein Zuhause, als wäre es dein eigenes Kind.«
    Ali wurde erneut schwindlig. Vielleicht lag es an dem Dattelschnaps, der immer noch seine Wirkung in seinem Körper entfaltete, vielleicht aber auch an dem Sturm, der in seinem
    Innern tobte, ausgelöst durch all das, was er an diesem Abend erfahren hatte.
    »Lass uns nach oben gehen, auf den Turm«, keuchte er. »Ich brauche frische Luft. Ich muss nachdenken, ich muss ...«
    »Ich kann dich verstehen«, sagte Saddin, erhob sich leichtfüßig und half Ali auf die Beine. »Doch ich flehe dich an, denke nicht zu lange nach. Die Zeit ist knapp.«
    Ali stützte sich auf den Nomaden wie ein altersschwacher, vom Leben gebeugter Greis. In diesem Augenblick hätte sicherlich niemand vermutet, dass sie in Wahrheit gleichaltrig waren. Langsam und bedächtig stiegen sie die Stufen zum Turm empor. Saddin öffnete die Tür, und sie traten gemeinsam auf die Plattform hinaus. Über der Stadt lag die Stille der Nacht. Nur vereinzelt waren an der nahe gelegenen Palastmauer die Feuer der Wachen zu sehen. Schwarz und drohend wie ein mahnender Finger erhob sich das Minarett der Moschee in den klaren Nachthimmel.
    Hier stehe ich immer, dachte Ali und atmete gierig die kühle Luft ein. Hier stehe ich mit meinem Fernrohr und beobachte die Sterne, wenn ich nachts nicht schlafen kann. Wenn mich Träume wecken oder die Gedanken an Beatrice mich keinen Schlaf finden lassen. Beatrice. Immer wieder Beatrice.
    »Was wirst du tun, wenn ich das Kind nicht in meinem Haus aufnehme?«, fragte Ali.
    Saddin sog hörbar die Luft ein.
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte er leise. »Ich ... Ehrlich gesagt habe ich darüber gar nicht nachgedacht, weil ich fest damit gerechnet habe ...« Er brach ab und stützte sich auf die hüfthohe Mauer, welche die Plattform umgab. Es hatte fast den Anschein, als ob ihm jetzt zur Abwechslung schwindlig wäre. »Ich hatte angenommen, dass ich dich überzeugen könnte.« Er sah Ali an. »Ich konnte dich doch überzeugen, oder?«
    Ali starrte in den Sternenhimmel hinauf, nur um Saddins Blick nicht erwidern zu müssen. In den dunklen Augen des Nomaden lag keine Verachtung, kein Zorn, sondern nur Fassungslosigkeit und abgrundtiefe Verzweiflung.
    »Verstehe mich nicht falsch, Saddin, aber ich habe Schwierigkeiten, in die ich kein Kind hineinziehen möchte. Diese Kleine hat das nicht verdient. Wer weiß, vielleicht muss ich schon nächsten Monat Qazwin wieder verlassen, vielleicht sogar noch früher. Sie würde ein rastloses Leben führen, nirgendwo wäre sie zu Hause. Ich lebe wie auf Treibsand. Sobald dem Emir meine Nase nicht mehr gefällt oder ich ein falsches Wort sage, gehöre ich zu den Verrätern und werde verfolgt. Ich ...« Er holte tief Luft und versuchte das bohrende Gefühl in seinem Bauch zu ignorieren, bei dem es sich ohne Zweifel um sein Gewissen handelte. »Ich fürchte einfach, ich bin dieser Aufgabe nicht gewachsen.«
    Saddin schloss die Augen.
    »Es tut mir Leid«, sagte Ali und legte dem Nomaden eine Hand auf die Schulter. »Wirklich. Aber du weißt

Weitere Kostenlose Bücher