Das Auge der Fatima
gestorben durch die Hand des Nomaden. Aber wo war Saddin?
In diesem Moment hörte Ali ein leises Stöhnen und drehte sich um. Und da sah er ein helles Bündel im Schatten neben dem Eingang zur Treppe liegen. Sein Magen verkrampfte sich. Langsam, als würde eine unsichtbare Kraft seine Beine am Boden festhalten, trat er näher. Tatsächlich, es war Saddin. Er lag zusammengesunken, beide Hände auf den Bauch gepresst und mit geschlossenen Augen, gegen die Wand gelehnt da. Seine Kleidung war zerrissen und blutdurchtränkt.
Ali kniete neben ihm nieder und legte ihm behutsam eine Hand auf die Brust. Sein Herzschlag war erschreckend schwach. Zahlreiche Schnittwunden bedeckten seine Arme und Beine, doch keine von ihnen schien gefährlich zu sein. Wenigstens auf den ersten Blick nicht.
»Ali!« Saddin schlug die Augen auf, griff nach Alis Schulter und zog sich mühsam hoch. Sein Gesicht war bleich im Mondlicht, seine Augen glänzten fiebrig. »Was ist ... mit ... Michelle? Ist sie ...?«
»Die Kleine ist in Sicherheit. Ich habe sie gut versteckt.«
Saddin schloss erleichtert die Augen und ließ sich wieder zurücksinken.
»Allah sei Dank!«, flüsterte er. Dann sah er Ali an, und ein grimmiges Lächeln umspielte seine Lippen. »Diese Ratten haben bezahlt. Diesmal habe ich sie alle erwischt. Sie sind tot, Ali.«
»Ich weiß, ich habe sie gesehen«, erwiderte Ali und zog Saddins Hände behutsam zur Seite. Sofort sprudelte Blut aus einer klaffenden Wunde hervor, als hätte sich im Leib des Nomaden eine Quelle geöffnet. Ali schluckte. Er war ein erfahrener Arzt. Er erkannte eine tödliche Verletzung, wenn er sie sah. Instinktiv presste er seine Hand auf den Bauch des Nomaden, obwohl er genau wusste, wie sinnlos es war. Diese Blutung würde niemand stillen können. Vermutlich nicht einmal Beatrice mit all ihren erstaunlichen Künsten aus einer fernen Zukunft. »Saddin, du solltest jetzt nicht ...«
Doch der Nomade schüttelte den Kopf. »Du brauchst mir nichts vorzumachen. Ich habe dem Tod oft genug in die Augen gesehen, ich kenne sein Gesicht. Ich werde sterben.«
Ali erinnerte sich an das seltsame Lächeln, das er vorhin auf Saddins Gesicht gesehen hatte. Der Nomade hatte geahnt, was geschehen würde. Bereits zu jenem Zeitpunkt hatte er es geahnt.
»Was wird jetzt aus Michelle?«
»Sie wird bei mir wohnen«, antwortete Ali. »Ich wollte es dir gerade sagen. Ich habe mich anders entschieden. Sie wird bei mir bleiben, und ich werde sie aufziehen, als wäre sie mein eigenes Kind.«
Saddin schloss die Augen, und eine einzelne Träne rann über seine Wange.
»Du hast ihr in die Augen gesehen. Habe ich Recht?« Saddin lächelte. »Du hast in ihrem Gesicht gesehen, was ich gesehen habe - Beatrice.«
Ali nickte. »Ja, ich ...«
»Herr«, Mahmuds Stimme unterbrach Ali. »Kann ich Euch ...«
Der Blick des Dieners fiel auf Saddin und die Blutlache, die ihn umgab, und er wurde bleich. Voller Entsetzen presste er eine Hand auf den Mund.
»Herr«, keuchte er schließlich. »Allah sei uns gnädig! Seid Ihr ... seid Ihr unversehrt?«
»Ja, das bin ich«, sagte Ali und spürte plötzlich wieder dieses dumpfe, bohrende Gefühl in seiner Magengrube. Saddin würde sterben. Der Nomade hatte sein Leben für die Sicherheit des Mädchens - und letztlich auch für ihn - gegeben. Und was hatte er getan? Er war im Haus herumgelaufen wie ein aufgeschrecktes Weib und hatte nach einem sicheren Versteck gesucht, statt ebenfalls zu kämpfen. Saddin verblutete vor seinen Augen, und er selbst hatte nicht einmal einen Kratzer davongetragen.
»Allah sei gelobt und gepriesen, dass Er in Seiner großen Güte und Gnade Euer Leben verschont hat!«, stieß Mahmud mit deutlichem Zittern in der Stimme hervor. »Aber, Herr, was ist mit Eurem Gast? Sollen wir ihn hinuntertragen, damit Ihr seine Wunden versorgen könnt?«
Ali sah auf seine Hand hinab, die er immer noch auf den Leib des Nomaden gepresst hatte. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, frisches, warmes Blut. Und in diesem Moment war ihm klar, dass Saddin das Patientenzimmer nie erreichen würde. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Er musste sich entscheiden. Rasch.
»Nein«, sagte er. »Aber bringe eine Decke und einen Krug m it Wasser. Und beeile dich!«
Während Mahmud sich auf den Weg machte, um die Befehle seines Herrn auszuführen, wandte sich Ali wieder Saddin zu. Das Gesicht des Nomaden war jetzt geradezu erschreckend blass.
»Ich muss dir noch vieles sagen, Ali«, meinte
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