Das Auge der Fatima
»Keiner von uns beiden hat sich in den vergangenen Jahren geändert, Ali. Dich beschäftigen weiterhin die Sterne, die Wissenschaften und deine Bücher. Mich hingegen interessieren immer noch Informationen.«
»Dann musst du ja auch wissen, was du da von mir verlangst«, rief Ali aufgebracht. Er sprang auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen. »Ich habe diesen Fidawi nichts entgegenzusetzen, Saddin. Ich bin kein Krieger oder Schwertkämpfer, ich bin Arzt! Noch dazu einer, der wegen seiner Ideen und Ansichten ohnehin immer wieder mit Herrschern und Geistlichen aneinander gerät, sogar mit solchen, die ich nicht als Fanatiker bezeichnen würde. Oder warum habe ich wohl in den vergangenen Jahren so oft meinen Aufenthaltsort gewechselt? Oft genug war ich selbst schon auf der Flucht, und so mancher Fürst in den Städten der Gläubigen wünscht sich meinen Tod. Die Fidawi werden sich alle Finger danach lecken, mich zu töten - eine weitere Sprosse auf ihrer Leiter zum Paradies. Es wird ihnen eine Freude sein, mich in Stücke zu schneiden und über dem Feuer zu rösten.«
»Natürlich blieben mir deine Schwierigkeiten keineswegs verborgen, Ali«, erwiderte Saddin ruhig. »Ich kenne die Gründe für deine rastlosen Wanderungen sehr gut. Trotzdem ist Michelle bei dir am sichersten. Denn falls ihre Mutter kommt, um nach ihr zu suchen, wird sie zuerst zu dir gehen.«
Ali sah Saddin verständnislos an.
»Und wieso?«
»Weil ihre Mutter dich kennt, und weil ...« Er fixierte Ali m it seinem Blick. »Weil sie dich einst geliebt hat.«
Ali zuckte zusammen, als hätte Saddin ihm einen Kübel eisig kaltes Gebirgswasser über den Kopf geschüttet. Er begann zu zittern.
»Du meinst ...« Seine Stimme erstarb. Er weigerte sich, den Gedanken weiterzuspinnen aus Angst, Saddin würde seine zart keimende Hoffnung mit einer einzigen Geste, einem einzigen Wort wieder zunichte machen.
»Ja, Ali. Ihre Mutter ist Beatrice.«
Ali ließ sich wieder auf sein Polster fallen und sank kraftlos in sich zusammen.
»Hast du ...«, er stockte und fuhr mit seiner Zunge über seine trockenen Lippen. »Hast du sie gesehen? Beatrice? Bist du ihr begegnet?«
Saddin schüttelte den Kopf. »Nein. Ich sah sie das letzte Mal an jenem Tag, als ich Buchara verlassen habe.«
»Woher weißt du dann, dass dieses Mädchen ihre Tochter ist?«, fuhr Ali ihn an. »Wie kannst du so etwas wissen?«
Ein Lächeln überzog das Gesicht des Nomaden, ein Lächeln voller Zärtlichkeit.
»Du brauchst diesem Kind nur in die Augen zu sehen. Sie ist Beatrices Tochter. Sie hat die gleichen Augen, das gleiche Lächeln, das gleiche goldene Haar. Wenn man sie beobachtet, haben sogar ihre Gesten Ähnlichkeit.«
Ali schloss die Augen. Ihm wurde plötzlich schwindlig. Sollte es tatsächlich wahr sein? Sollte Saddin Recht haben und dieses Mädchen, das jetzt auf den Strohsäcken in seinem Besucherzimmer lag und friedlich schlief, Beatrices Tochter sein? Das war schier unvorstellbar. Mit zitternder Hand griff er nach dem Wasserkrug, schenkte sich den Becher bis zum Rand voll und stürzte ihn in einem Zug hinunter. Das kalte Wasser rann durch seine ausgedörrte Kehle, doch das Schwindelgefühl blieb. Er bekam kaum noch Luft. Das konnte alles nicht wahr sein. Saddin trieb lediglich sein Spiel mit ihm, so wie er es schon immer getan hatte. Das Spiel einer Katze mit einer Maus.
»Du lügst«, stieß er hervor. Und in diesem Augenblick, da er die Worte ausgesprochen hatte, wurde es ihm zur Gewissheit. Der Nomade hatte ihn angelogen. Das Märchen vom Stein der Fatima, von rätselhaften Verfolgern und Geheimorden hatte er sich nur ausgedacht. Es konnte gar nicht anders sein. Erfolgreich unterdrückte er jene innere Stimme, die ihm etwas anderes zuflüstern wollte. Der Dattelschnaps half ihm dabei. »Du lügst mit jedem Wort, das aus deinem Mund ...«
»Ich habe dich noch nie belogen, Ali al-Hussein«, unterbrach ihn Saddin scharf. »Weshalb sollte ich es ausgerechnet jetzt tun?«
»Wirklich?« Ali lachte auf. »Du hast mich doch vom ersten Tag an belogen, als wir uns begegnet sind. Du hasst mich. Du hast mich schon immer gehasst, weil Beatrice mich geliebt hat und nicht dich. Weil sie bei mir geblieben ist. Und jetzt willst du mir dieses Kind unterschieben. Und du hast diese ... diese Fidawi auf meine Spur gelockt, falls sie überhaupt existieren. Du hast sie auf meine Fährte geführt, damit sie endlich das vollbringen, was du selbst nicht geschafft hast - mich zu töten. Du
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