Das Auge der Fatima
kein Arabisch sprach. Wie sollte er ihr klar machen, dass sie mit ihm kommen und sich verstecken musste?
»Ali«, sagte'er und deutete mit dem Zeigefinger auf sich. Dann streckte er seine Hand aus. »Komm mit. Schnell.«
Das Mädchen runzelte die Stirn.
»Saddin?«, fragte es und sah Ali mit denselben blauen Augen an, mit denen auch Beatrice ihn immer angesehen hatte.
»Er kommt bald. Du musst dich jetzt verstecken.«
Ob sie ihn wirklich verstanden hatte, konnte Ali nicht sagen. Vielleicht hatte sie auch auf ihrer Flucht mit Saddin bereits so viele Erfahrungen gesammelt, dass sie ahnte, um was es hier ging. Sie ergriff Alis Hand mit ihrer kleinen und sah ihn mit ihren großen blauen Augen an. In diesem Blick lag so viel Vertrauen, dass es Ali förmlich die Kehle zuschnürte, und ihm kamen die Tränen. Gleich würde er es Saddin sagen. Er würde ihm sagen, dass er sich keine Sorgen mehr zu machen brauche. Michelle würde bei ihm bleiben. Zur Not für immer.
Gemeinsam liefen sie quer durch das Haus zu seinem Arbeitszimmer. Dort gab es eine alte Truhe, groß genug, um sogar einem ausgewachsenen Mann als Versteck dienen zu können. Hastig warf Ali ein paar Kissen hinein. Ohne dass er auch nur ein Wort zu sagen brauchte, kletterte die Kleine in die Truhe und duckte sich. Ali breitete eine Decke über sie und legte beschwörend seinen Finger auf die Lippen. Sie nickte. Dann hauchte er einen Kuss auf die Stirn des Mädchens und klappte schweren Herzens den Deckel zu. Er konnte nur hoffen, dass dieses Versteck sicher war. Dass, sollten die Fidawi in sein Haus eindringen, keiner von ihnen auf die Idee käme, in einer alten, wurmstichigen Truhe, in der er Tücher und anderes Verbandsmaterial aufbewahrte, nach dem Mädchen zu suchen.
Hastig holte Ali aus einem Schrank einen etwas angestaubten Säbel heraus, ein Erbstück seines Großvaters, und machte sich wieder auf den Weg zum Turm. Er wusste zwar noch nicht, wie er Saddin helfen sollte, aber eines war klar, er konnte den Nomaden nicht einfach allein gegen zwei dieser Fidawi kämpfen lassen. Das bohrende Gefühl in seinem Magen war verschwunden. Jetzt, da er wusste, was er zu tun hatte, hatte er kein schlechtes Gewissen mehr. Er hatte nicht einmal mehr Angst. Und mit jedem Schritt wurde er sich seiner Sache sicherer.
Trotzdem wurden Alis Knie weich, als er langsam und so leise er konnte die Treppe zum Turm emporstieg. Atemlos lauschte er an der geschlossenen Tür. Es war nichts zu hören. Keine Stimmen, kein Waffengeklirr, kein Laut. War der Kampf etwa schon beendet? Stellten die Fidawi ihm eine Falle? Behutsam zog er den Riegel zurück und öffnete die Tür einen Spalt, sodass er gerade eben hindurchspähen konnte. Eine schwarze Gestalt hing quer über der Turmmauer, als gäbe es in der zehn Meter tiefer liegenden Straße etwas besonders Interessantes zu beobachten. Ali versuchte die Tür ganz zu öffnen, doch etwas Schweres versperrte ihm den Weg. Mit aller Kraft schob und drückte er, bis der Spalt breit genug war, sodass er sich, wenn auch nur mit Mühe, hindurchzwängen konnte. Dabei wäre er fast über ein Paar regloser Beine gestolpert. Fassungslos sah er auf den Körper des Mannes hinab, der ihm zu Füßen lag. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Der Blick seiner weit aufgerissenen Augen in seinem bärtigen Gesicht war entsetzlich. Überrascht und voller ungläubiger Bestürzung starrte er in den Himmel hinauf, als hätte Allah selbst in seinem Zorn das Schwert gegen ihn erhoben. Unter seinem Kinn klaffte eine entsetzliche, ohne Zweifel tödliche Wunde. Trotzdem kniete sich Ali neben ihm nieder. Nicht einmal jetzt konnte er vergessen, dass er Arzt war, dass er diesem Mann, sofern in ihm noch ein Hauch von Leben steckte, helfen musste. Er tastete nach dem Herzschlag des Mannes. Doch auf seiner Brust war nichts außer klebriges, im Mondlicht schwarz glänzendes Blut. Der Fidawi war tot. Ali wischte seine blutigen Finger an der schwarzen Kleidung des Mannes ab und erhob sich. Leise, auf Zehenspitzen schlich er zu dem anderen Mann, der immer noch bewegungslos über der Mauer hing. Dabei merkte er zu seinem großen Entsetzen, dass er sich nichts sehnlicher wünschte, als dass auch dieser Mann tot wäre. Seine Hoffnungen wurden erfüllt. Der Bauch des Mannes war aufgeschlitzt, sodass sich seine Eingeweide auf der Mauer verteilten wie die eines Opfertiers in einem abscheulichen, barbarischen Ritus. Angewidert wandte Ali sich ab. Die beiden Fidawi waren also tot,
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