Das Auge der Fatima
ja, wie so etwas ist. Immer auf dem Sprung. Nie kann ich sicher sein. Jederzeit bin ich bereit, meine Sachen zu packen und die Stadt zu verlassen. Abgesehen davon bin ich kein Krieger, Saddin. Bei dir ist die Kleine wirklich besser aufgehoben.« Er zog seine Hand wieder zurück. Sein Gewissen schien ihm ein Loch in den Leib brennen zu wollen. »Was wirst du jetzt tun? Gehst du zu deinen Leuten, zu deiner Familie zurück?«
Saddin schüttelte den Kopf. Er wirkte ein wenig benommen, so als müsste er sich erst von einem Faustschlag erholen. Dem gewaltigen Faustschlag eines Riesen.
»Die Fidawi haben bereits vier meiner Männer getötet, sie haben meiner eigenen Familie großes Leid zugefügt. Ich kann sie nicht noch einmal dieser Gefahr aussetzen.« Er sah hinauf in den Sternenhimmel, und Ali hatte den Eindruck, dass in den Augen des Nomaden Tränen schimmerten. Dieser Anblick war kaum zu ertragen. Doch was sollte er tun? Er hatte wirklich keine Wahl. »Wahrscheinlich werde ich mit Michelle einfach weiterreiten. Kreuz und quer durch die Wüste und keine zwei Tage am selben Ort verbringen. Wer weiß, vielleicht haben wir Glück. Vielleicht ist Allah gnädig, und die Fidawi verlieren irgendwann unsere Spur. Oder es gelingt mir, sie rechtzeitig zu töten.«
»Saddin, ich ...«
Ali brach ab. Er hörte hinter sich ein leises Klatschen, als ob etwas auf den Steinboden des Turms gefallen wäre. Saddin fuhr herum, und im selben Augenblick kletterten zwei Schatten geschickt und nahezu lautlos über die Turmmauer.
»Fidawi!«, zischte der Nomade grimmig und zog seine Schwerter. »Diese Söhne einer räudigen Hündin haben uns gefunden. Falls du mir jetzt immer noch nicht glaubst, Ali, so gehe auf sie zu. Wer weiß, vielleicht gelingt es dir sogar, einfach durch diese Trugbilder hindurchzugehen.«
Ali schluckte. Er wusste, dass er im Grunde seines Herzens keinen Augenblick an der Wahrheit von Saddins Worten gezweifelt hatte.
»Was sollen wir jetzt tun?«, flüsterte er verzweifelt.
»Lauf zu dem Kind. Verriegle die Tür von innen. Ich versuche die beiden aufzuhalten.«
»Und du? Was ist ...«
»Denk an Michelle! Beeile dich!«
Zögernd trat Ali auf die Tür zu. Er sah noch einmal zurück. Das Licht des Mondes schimmerte auf Saddins schwarzem Haar, seine gekreuzten Schwerter funkelten. Seine Kleidung leuchtete so strahlend weiß, als wäre er ein Engel, gesandt, um gegen die finsteren Geschöpfe der Hölle zu streiten, die sich ihm lauernd näherten. Dann zog Ali die Tür zu und verriegelte sie. So schnell ihn seine Beine trugen, rannte er die steile Treppe hinunter. Er stolperte und hätte fast Mahmud umgestoßen, der gerade heraufgestiegen kam.
»Herr, das Nachtmahl ist ...« Der Diener brach ab und schien erst jetzt den Ausdruck auf Alis Gesicht zu bemerken. »Herr, was ist? Und wo ist Euer Gast?«
»Er ist oben auf dem Turm. Komm mit, wir müssen zu dem Mädchen«, antwortete Ali keuchend.
»Zu dem Mädchen? Aber warum denn, Herr? Es schläft doch, und ...«
Aber Ali lief schon weiter und zog den Diener am Ärmel hinter sich her. Er hatte keine Zeit, Mahmud alles genau zu erklären. Nicht jetzt, da er wusste, dass Saddin oben auf dem Turm um sein Leben kämpfte und dass das Mädchen, die Kleine, die er noch nicht einmal kannte, in tödlicher Gefahr schwebte.
Als Ali im Besucherzimmer ankam, war er außer Atem. Seit langem, seit vielen Jahren war er nicht mehr so schnell gelaufen. Doch die Angst, dass die Fidawi ihm zuvorgekommen sein könnten, dass sie bereits in sein Haus eingedrungen waren und Michelle entweder entführt oder gar getötet hatten, verlieh seinen Schritten Flügel. Aber als er die Tür öffnete, war alles friedlich. Das Kind schlief.
Ali beugte sich über das kleine Mädchen und sah ihm zum ersten Mal ins Gesicht. Es war das Gesicht eines Engels, umrahmt von feinem goldenem Haar. Dieser Anblick schnitt ihm tief ins Herz. Ein heilsamer Schnitt, wie er ihn manchmal selbst anwendete, um Eiter aus einer Wunde abfließen zu lassen. Ja, Saddin hatte Recht. Dieses Kind war wirklich und wahrhaftig Beatrices Tochter. Und plötzlich wusste er, was er zu tun hatte. Das Kind würde bei ihm bleiben, egal was noch geschehen mochte. Ali berührte das Mädchen sachte an der Schulter.
»Michelle!«, sagte er. »Wach auf!«
Das Mädchen bewegte sich, schlug die Augen auf und blinzelte ihn verschlafen an. Und da fiel Ali ein, dass ihn die Kleine vermutlich gar nicht verstehen konnte, dass sie wahrscheinlich
Weitere Kostenlose Bücher