Das Auge der Fatima
willst ...«
Saddin erhob sich. Sein Gesicht war weiß vor Zorn.
»Du gehst zu weit, Ali al-Hussein«, sagte er, und seine Stimme zitterte vor mühsam unterdrückter Wut. »Selten hat ein Mann es gewagt, mich derart zu beleidigen. Jeder andere würde jetzt bereits mit durchschnittener Kehle zu meinen Füßen liegen. Du solltest deinem Schöpfer dankbar sein.« Saddin ging mit langen Schritten durch das Speisezimmer. »Wenn es jemals meine Absicht gewesen wäre, dich zu töten, Ali al-
Hussein, hätte ich es schon längst getan. Schon vor Jahren. Und ich habe es gewiss nicht nötig, dir zu erklären, dass ich dazu nicht auf die Hilfe der Fidawi angewiesen bin.«
Ali spürte, dass er zu weit gegangen war. Dennoch hob er trotzig sein Kinn.
»Und warum bist du dann bei mir aufgetaucht?«
Saddin fuhr herum. »Dummkopf!«, herrschte er ihn an. »Ich dachte, das hätte ich dir eben erklärt. Hast du mir nicht zugehört? Hast du nicht ein Wort von dem verstanden, was ich dir gerade gesagt habe? Michelle braucht deine Hilfe. Die Fidawi sind ihr auf den Fersen, weil sie einen Stein der Fatima besitzt. Und sie ist Beatrices Tochter. Wenn Beatrice kommt, um nach ihr zu suchen, wird sie es natürlich zuerst bei dir tun. Hast du es jetzt begriffen?« Er machte eine Pause. Es schien ihn große Mühe zu kosten, nicht endgültig die Kontrolle über sich zu verlieren. Die Muskeln an seinen Schläfen arbeiteten. »Vermutlich fällt es dir schwer, mir zu glauben, aber ich habe dich nie gehasst, nicht einen Augenblick lang. Vielleicht hätte ich dich aus Eifersucht töten können, damals, in jenen Tagen, bevor ich Buchara verließ. Aber es hätte ohnehin nichts genützt. Beatrice war eine Frau, wie sie mir weder vorher noch nachher jemals wieder begegnet ist. Sie hatte ihren eigenen Willen, sie war frei und unabhängig wie ein Mann. Sie konnte zwischen uns beiden entscheiden, und ihre Wahl ist auf dich gefallen. Hätte ihr Entschluss anders gelautet, keine Macht der Welt hätte sie daran hindern können, mit mir zu kommen.« Saddin sah Ali an. Plötzlich glätteten sich die zornigen Falten auf seiner Stirn, und Erstaunen trat auf sein Gesicht. »Jetzt verstehe ich. Du hast es nicht gewusst. Nie warst du dir sicher, ob es wirklich der Stein war oder ob sie nicht doch mit mir fortgegangen ist.«
»Ich ... ich ...«, stammelte Ali. Er war verwirrt. Saddin hatte ausgesprochen, was er bislang nicht einmal vor sich selbst zugegeben hatte. »Beim Barte des Propheten!«, rief er schließlich aus. »Woher hätte ich es denn wissen sollen?«
Der Nomade ließ sich wieder auf sein Polster sinken. Er stützte den Kopf auf die Knie und strich sein Haar zurück.
»O Ali al-Hussein, was bist du doch für ein Narr, ein blinder, tauber Narr! Die Zeit, die du mit ihr verbracht hast, die Jahre des Forschens, dein Wissen über die Steine der Fatima - das alles hat nicht ausgereicht, um dir Gewissheit zu geben? Die vergangenen Jahre müssen für dich die Hölle gewesen sein.« Er sah Ali an, und in diesem Blick lag Verständnis. »O Ali! Hast du denn nie gemerkt, wie sehr sie dich geliebt hat? Beatrice hätte dich niemals verlassen. Nicht für alles Gold der Welt und für keinen anderen Mann. Auch nicht für mich.«
»Aber was war dann mit euch beiden?«, fragte Ali sofort. »Erzähle mir nicht, dass zwischen euch nichts gewesen ist, dass ihr euch nicht geliebt habt. Ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen. Sie hat dich geküsst! Noch dazu in meinem Haus!«
»Ja, Ali. Und doch ... Was zwischen mir und Beatrice war, ist etwas ganz anderes. Es lässt sich nicht vergleichen. Wir haben von Anfang an gewusst, dass es nur von begrenzter Dauer sein würde. Es war wie ein Sprung in den kühlen See einer Oase nach einem langen, heißen Ritt durch die Wüste. Doch niemand kann für immer in kaltem Wasser baden, ohne irgendwann zu frieren. Und so wäre es auch uns beiden ergangen. Eines Tages hätten wir genug voneinander gehabt.« Saddin lächelte. »Allah hat uns in seiner unendlichen Güte genau so viel gemeinsame Zeit geschenkt, wie wir ertragen konnten.«
Ali spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Der Nomade war wie ein Mann, der einen Blick auf einen sagenumwobenen Schatz hatte werfen dürfen und diesen aus eigenem Wil-
Jen abgelehnt hatte, weil er erkannt hatte, dass das Gold und die Juwelen ihm kein Glück bringen konnten.
»Du bist zu beneiden, Saddin«, sagte Ali leise.
Der Nomade zuckte mit den Schultern. »Jeder trägt das Schicksal, das
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