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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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hatte. War sie einfach nur zu früh aufgewacht? Sollte sie also jetzt einfach hier sitzen bleiben und warten? Warten, bis endlich jemand vorbeikam - eine Karawane, Hirten, die drei Weisen aus dem Morgenland? Sie untersuchte ihre Kleidung. Doch die beiden Beutel, die unter dem weiten Reisemantel an ihrem Gürtel hingen, waren leer. Abgesehen von dem Saphir hatte sie offensichtlich nichts bei sich - kein Messer, keinen Proviant, kein Wasser. Nichts, das ihr in einer derart kargen Landschaft hätte nützlich sein können.
    Beatrice hörte die Schreie der Geier. Es klang triumphierend, so als hätten die Vögel sie genau beobachtet und erkannt, dass sie hilflos war. Sie blickte zu ihnen empor. Mittlerweile waren es drei. Offensichtlich verschickten die Biester sogar schon Einladungen für das bevorstehende Festbankett.
    Nein. Beatrice wurde wütend und erhob sich. So weit kommt es noch. Nach allem, was ich bereits durchgestanden habe, werde ich nicht als Galadiner für Geier enden.
    Sie klopfte sich energisch den Staub von ihrer Kleidung und zog sich das breite wollene Tuch zum Schutz gegen die Sonne über den Kopf. Diese Geier würden sich einen anderen Kadaver suchen müssen. Sie dachte nicht daran zu sterben. Wenigstens nicht so lange, bis sie wusste, was aus Michelle geworden war. Aber wohin sollte sie jetzt gehen?
    Beatrice hielt den Saphir gegen die Sonne. Die Strahlen brachen sich in dem Stein, der in ihrer Hand zu wachsen schien. Das gleißende blaue Funkeln wurde so intensiv, dass es sich geradezu schmerzhaft in ihre Augäpfel bohrte und sie schließlich den Blick senken musste. Da sah sie vor sich in einigen Metern Entfernung einen leuchtenden blauen Fleck im Wüstenstaub. Er schaute aus wie ein Finger, der in eine bestimmte Richtung zeigte. Im ersten Moment glaubte Beatrice, sie hätte sich getäuscht. Sie nahm an, dass ihre geblendeten Augen ihr einen Streich spielten. Es konnte sich nämlich auf gar keinen Fall um ein physikalisches Phänomen handeln. Sie war zwar nie eine Leuchte in Physik gewesen, aber so viel wusste sie immerhin noch, dass beim derzeitigen Stand der Sonne ein Reflex, hervorgerufen durch das in den Saphir einfallende Sonnenlicht, hinter ihr hätte auftauchen müssen. War das etwa ein Zeichen? Aber das war doch Unsinn, so etwas gab es nicht, außer in Märchen und Legenden - oder den unglaubwürdigen Berichten von Esoterikern. Trotzdem begann Beatrice sich zu drehen und den Saphir mal in die eine, mal in die andere Richtung zu halten. Und das Unglaubliche trat ein. Der blaue Finger war zwar mal schwächer, mal deutlicher zu sehen, er wurde mal kürzer und mal länger, doch immer, egal, von welcher Seite das Licht der Sonne in den Saphir fiel, zeigte der blaue Finger auf dem staubigen Wüstenboden in dieselbe Richtung. Beatrice dachte angestrengt nach und versuchte eine natürliche Erklärung zu finden. Aber nach einiger Zeit gab sie auf. Mit den ihr bekannten physikalischen Formeln ließ sich dieses Phänomen gewiss nicht erklären. Also blieb nur noch eine Möglichkeit - es war ein Zeichen. So etwas wie der brennende Dornbusch, das Wasser, das in der Wüste aus dem Felsen sprudelte, das Manna, das vom Himmel fiel. Jemand - eine höhere Macht - sorgte für sie und zeigte ihr, wohin sie gehen musste.
    Beatrice zögerte nicht länger. Sie steckte den Saphir in einen der Beutel an ihrem Gürtel und ging los, voller Zuversicht, dass sie auf dem richtigen Weg war und dass, egal, wie weit er auch sein möge, an seinem Ende Michelle auf sie wartete.
    »Mein Herr.« Der Diener verneigte sich tief. »Ich bitte um Vergebung für die Störung. Ich belästige Euch nur ungern so kurz vor dem Beginn des Mittagsgebets, doch draußen vor der Tür steht ein Bettler, der um Einlass bittet. Und ich habe mich daran erinnert, dass Ihr mir vor einiger Zeit die Anweisung gegeben habt, jeden Hilfsbedürftigen, der an Eure Tür klopft, zu Euch vorzulassen.«
    »Ich weiß«, erwiderte Hassan. Natürlich dachte sein Diener, dass er als gläubiger Muslim lediglich dem Gebot der Almosengabe folgen wollte. Niemand hier, weder seine Freunde noch seine Brüder und sein Vater ahnten, dass er in Wahrheit einen Boten erwartete, einen Boten, der wie ein Bettler gekleidet sein würde. »Führe den Armen herein. Er soll sein Anliegen ohne Scheu vortragen dürfen.«
    Der Diener verneigte sich wieder und verschwand. Hassan wandte sich um und sah zum Fenster hinaus. Kaum einen Steinwurf von ihm entfernt stand die Moschee.

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