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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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Majestätisch erhob sie sich über die Dächer von Gazna, die schlanken Säulen ihrer Minarette streckten sich wie mahnende Finger gen Himmel, eine ewige Erinnerung daran, worauf der Gläubige sein Herz und sein ganzes Streben richten sollte. Oft hatte er es als Zeichen gedeutet, dass ausgerechnet er von seinem Fenster aus einen ungehinderten Blick auf die goldenen Kuppeln der Moschee hatte. Jetzt starrte er ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln hinaus, in der Hoffnung, Antwort auf seine Fragen zu erhalten. Er starrte hinaus, bis ihm das von den goldenen Dächern reflektierte Sonnenlicht Tränen in die Augen trieb. Nur mühsam vermochte er seine Erregung zu beherrschen. Konnte es wirklich sein, dass endlich die ersehnte Nachricht kam? Dass man es gefunden hatte - dieses heilige Kleinod von so erlesener Schönheit, wie sie nur Allah in Seiner unermesslichen Zuneigung zu den Gläubigen erschaffen konnte? Und dass es nur noch wenige Augenblicke dauern würde, bis er es mit seinen eigenen Händen berühren durfte? Doch wenn dies nicht der Bote war, auf den er schon so lange wartete? Wenn dieser Mann nichts als ein gewöhnli- eher Bettler war? Nun, dann würde er eben ein Goldstück opfern, so wie Allah es in Seiner Güte und Barmherzigkeit von den Gläubigen forderte.
    Er hörte, wie sich die Tür hinter seinem Rücken öffnete. Mit schnellen leisen Schritten näherte sich jemand und blieb schließlich ein paar Fuß von ihm entfernt stehen.
    »Herr.« Das war die Stimme seines Dieners.
    Erst jetzt gestattete sich Hassan ein Blinzeln und wandte sich schließlich um. Grellbunte Lichtkreise tanzten vor seinen geblendeten Augen, und nur undeutlich erkannte er einen in erbarmungswürdige Lumpen gehüllten Mann, dessen Gesicht in einem Schleier aus brennend heißen Tränen verschwamm. Doch in dem Strudel aus Farben und Formen nahm der Mann die Gestalt eines Mönches an, und aus seinen Augen schlug ihm in hellen Flammen das heilige Feuer entgegen. War das ein Zeichen?
    »Salami«, sagte Hassan und tastete sich vorsichtig durch den Raum, dessen Möbel und Polster plötzlich ihre Farben gewechselt zu haben schienen. Einen einfältigen Mann hätte dieses Phänomen sicher beunruhigt, doch er war am Rande der Wüste aufgewachsen. Er wusste, dass er einfach zu lange in die Sonne gesehen hatte, und schloss die Augen, um ihnen Ruhe zu gönnen. Und als er sie wieder aufschlug, konnte er beinahe normal sehen.
    Der Bettler war noch sehr jung. Im Grunde war er noch ein halbes Kind, mager, blass und bartlos. Doch in seinen dunklen, fast schwarzen Augen loderte ein heiliges Feuer, wie Hassan es bislang nur bei den Mitgliedern seiner Bruderschaft gesehen hatte. Trotzdem wusste er schon in diesem Moment, dass sie den Stein immer noch nicht hatten, selbst wenn dies der Bote war, den er so sehnlich erwartete. Osman hätte es niemals gewagt, ein Kind mit dem Stein der Fatima zu ihm zu schicken.
    »Du brauchst dringend neue Kleider«, sagte Hassan und öffnete eine Schatulle, in der er stets eine Hand voll Golddinare aufzubewahren pflegte. »Außerdem hast du bestimmt Hunger. Geh mit meinem Diener. Er wird dich zur Küche begleiten, wo man dir eine reichliche Mahlzeit geben wird.«
    Der junge Mann nahm das Goldstück und betrachtete es. Dabei machte er einen derart verwirrten Eindruck, als hätte Hassan ihm statt des Geldes einen Dattelkern in die Hand gedrückt.
    »Ihr seid gütig und barmherzig, Herr. Allah möge Euch dafür segnen und Euch ein langes und gesundes Leben schenken. Aber ich wollte doch nicht...« Der junge Mann hob den Kopf und sah Hassan an. »Die Taube fliegt zum Berg.«
    Hassan lächelte. Er hatte sich also nicht getäuscht. Der Junge gehörte zu ihnen.
    »Und kehrt mit einem Ölzweig wieder zurück«, antwortete er und wandte sich an seinen Diener. »Geh, ich verspüre Hunger. Bereite mir etwas Sesampaste mit Honig zu, so wie nur du sie zuzubereiten verstehst.« Er wartete, bis der Diener den Raum verlassen hatte. »Sprich, Knabe.«
    »Verzeiht, Herr, dass ich Euch mit meiner Anwesenheit zu belästigen wage. Doch Meister Osman schickt mich mit diesem Brief zu Euch. Es ist dringend.«
    Der Junge holte aus einer unter den Lumpen verborgenen Tasche ein zusammengefaltetes Stück Pergament hervor und reichte es Hassan. Sorgfältig breitete er es aus und las. Es waren nur wenige Zeilen.
    »Ich hoffe, ich bringe gute Nachrichten«, sagte der Junge und drehte seinen verschlissenen, schmutzigen Fez verlegen in den Händen.
    Hassan

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