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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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seufzte. »Leider nein«, sagte er und schaffte es nur mühsam, seine Tränen zurückzuhalten. Es waren Tränen des Schmerzes, der Enttäuschung und des Zorns. In diesem kurzen Brief wurde ihm mitgeteilt, dass es dem verfluchten Nomaden gelungen war, mit dem Mädchen - und natürlich auch dem heiligen Stein - zu entkommen. Außerdem fehlte von den vier Mitbrüdern, die beiden auf den Fersen gewesen waren, jede Spur. Und der Stein der Fatima befand sich immer noch in den Händen der Ungläubigen und Unwürdigen. Welch eine Niederlage. »Wie ist dein Name, mein Sohn?«
    »Mustafa, Herr«, antwortete der Junge und trat von einem Fuß auf den anderen.
    »Gute Männer sind vielleicht gestorben, Mustafa. Männer, die ohne zu zögern bereit sind, ihr Leben für Allah zu opfern. Nun ist es an uns zu handeln.«
    »Was sollen wir tun?«, fragte der Junge, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. »Gebt mir einen Befehl, und ich werde ihn befolgen. Sagt mir, dass ich die Frevler töten soll, und ich werde es tun, selbst wenn ich dabei sterben muss. Ich bin bereit.«
    Hassan musste lächeln. Wahrlich, Allah hatte treue Männer um ihn versammelt. Selbst wenn er eines Tages nicht mehr sein würde, um sie zu führen, würden die Brüder standhaft bleiben.
    »Ich weiß. Allah wird dich eines Tages für deine Treue belohnen und dir große Aufgaben erteilen, doch nicht heute. Gehe zu meinem Diener und lass dir etwas zu essen bringen. Danach gönne dir eine gründliche Reinigung im Bad. In der Zwischenzeit werde ich einen Brief schreiben, den du auf dem schnellsten Wege zu Osman bringen musst. Das ist mein einziger Befehl. Diesmal.«
    Der Junge verneigte sich tief.
    »Ich danke Euch für das in mich gesetzte Vertrauen, Herr«, sagte er. »Und ich bete zu Allah, dass ich es nicht enttäuschen werde.«
    »Sofern dein Herz treu bleibt und stets den heiligen Worten des Korans folgt, wirst du mein Vertrauen rechtfertigen.« Er legte dem Jungen eine Hand auf das lockige schwarze Haar. »Allah möge jeden deiner Schritte segnen. Gehe jetzt. Uns bleibt nicht viel Zeit.«
    Als der Junge verschwunden war, setzte sich Hassan an seinen Schreibtisch. Der Ebenholzkasten, in dem er sein Schreibzeug aufbewahrte, war ebenso schlicht wie die Einrichtung seines Zimmers. Manchmal lachten seine Brüder über ihn, nannten ihn »den Asketen« oder »den Mönch«. Sie sagten, er übertreibe das Gebot ihres Vaters zur Mäßigkeit vielleicht doch etwas. Allah habe ihnen schließlich nicht den Reichtum geschenkt, damit sie ihn nicht nutzten. Aber er wusste es besser. Im Dienst für Allah gab es keine Übertreibungen. Es gab nur »ganz« oder »gar nicht«. Und er hatte sich schon als Knabe für die erste Variante entschieden.
    Er tauchte die Feder in das Tintenfass und begann zu schreiben. Es waren nur wenige hastige Zeilen. Osman muss- te sofort und auf der Stelle eine Spur der verschwundenen Brüder finden. Denn eines war gewiss - dort, wo diese Spur hinführte, würden sie das Mädchen finden. Und wo sie war, da befand sich auch der Stein der Fatima. Zum Schluss setzte er noch eine Zeile hinzu - eine Empfehlung an Osman, den Jungen Mustafa sofort in seine Obhut zu nehmen und ihn auszubilden. Sein junges, glühendes Herz ließ sich noch willig schmieden und formen. Auf Männer wie ihn würde man sich stets verlassen können.
    Hassan streute eine Hand voll Sand zum Trocknen über die Tinte und blies ihn fort. Dann faltete er das Pergament sorgfältig zusammen und verschloss es mit Wachs. Er setzte sein Siegel darauf, ein Siegel, das nicht die Insignien seiner Familie trug, eines wohlhabenden alten Geschlechts, das schon viele Herrscher hervorgebracht hatte. Selbst wenn er der älteste Sohn gewesen wäre, hätte er auf die Nachfolge seines Vaters verzichtet. Er wollte ein anderes, ein größeres Reich aufbauen, eines, das Bestand haben würde bis in alle Ewigkeit. Aus diesem Grund trug sein Siegel nichts als den Schriftzug »Allah ist groß«.
    Er erhob sich und trat wieder ans Fenster. Die Sonne war weitergewandert, ihr Licht schien jetzt milder auf die goldenen Kuppeln der Moschee und brannte nicht mehr in den Augen. Er konnte sehen, wie der Muezzin auf den Balkon des Minaretts hinaustrat. Hassan rollte seinen Gebetsteppich aus und kniete sich nieder. Während die Stimme des Muezzins über den Dächern von Gazna schwebte, betete Hassan für die vier Männer. Er wusste, dass er nicht für ihre Seelen beten musste. Alle Mitbrüder waren darauf vorbereitete,

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