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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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Nomaden wie einen Engel betrachten. Dabei hatten sie nie über seinen Tod gesprochen. Ob sie etwas ahnte? Jemand hatte ihm mal berichtet, dass Kinder in manchen Dingen ein sehr feines Gespür hatten und vieles wussten, ohne dass man es ihnen jemals erzählt hatte. Aber vielleicht hatte sie auch gehört, wie die Diener sich über den Tod des Nomaden unterhalten hatten.
    »Und was ist das hier?«, fragte Ali und deutete auf den vierten Kreis, der sich am linken oberen Bildrand befand und größer war als die anderen. »Ist das die Sonne?«
    Michelle zuckte mit den Schultern. »Nee, weiß ich nicht«, sagte sie. »Das ist bloß Krickelkrakel.«
    Doch Ali schluckte. Er fand, dass dieses »Krickelkrakel« die Form eines Auges hatte. Und je länger er das Bild betrachtete, umso deutlicher sah er es.
    Michelle schmiegte sich wieder an ihn und drehte mit ihren Händen den Saum ihres Kleides bis zum Bauch hoch.
    »Wann kommt meine Mama?«
    Ali seufzte. Von allen Fragen, die dieses Kind ihm stellen konnte, war das diejenige, vor der er sich am meisten fürchtete. Was sollte er sagen? Sollte er ihr einfach irgendeinen beliebigen Zeitraum nennen und darauf hoffen, dass Michelle ihn nicht der Lüge überführen würde, da sie ja ohnehin noch kein Zeitgefühl hatte? Doch nein, das konnte er nicht. Er konnte dieses Kind nicht anlügen. Nicht um alles in der Welt.
    »Ich weiß es nicht«, sagte er deshalb leise. »Und glaube mir, ich wünschte, ich könnte es dir sagen.«
    Er streichelte ihr sanft über den Kopf und sah dabei gedankenverloren das Bild an, das Michelle für ihn gemalt hatte. Das Auge war nun so deutlich, dass er sich fragte, weshalb er die Zeichnung nicht sofort erkannt hatte. Und plötzlich fiel ihm etwas ein, es war fast wie eine Eingebung. Wenn er schon nicht sagen konnte, ob und wann Beatrice kommen würde, konnte ihm vielleicht ein anderer helfen. Er würde den Mann noch an diesem Abend aufsuchen. Persönlich. Und heute würde er sich nicht so einfach abweisen lassen. Er würde so lange vor der Tür stehen bleiben, bis er endlich zu dem Juden vorgelassen wurde. Zur Not bis zum nächsten Morgen. Das schwor er sich.

Hewlett-Packard
    10.
    E s wurde bereits dunkel, als Ali das Haus verließ. Er hatte Michelle wie jeden Abend selbst ins Bett gebracht und ihr dann noch eine Geschichte erzählt. Ganz unmerklich hatte es sich zu einem jeden Abend wiederkehrenden Ritual entwickelt, einer Gewohnheit, die er sehr genoss - vermutlich sogar mehr als das kleine Mädchen. Jetzt lag sie liebevoll zugedeckt in einem Bett, das für sie eigentlich viel zu groß war, umgeben von einem Dutzend seidener Kissen, in denen duftende, den Schlaf fördernde Kräuter eingenäht waren. Trotzdem war er unruhig. Hoffentlich plagten Michelle keine Albträume, hoffentlich wachte sie während seiner Abwesenheit nicht auf und suchte verzweifelt nach ihm.
    Narr!, schalt er sich, du verhältst dich schon wie eine hysterische Amme. Dabei ist sie noch nicht einmal deine Tochter. Aber Michelle ist die Tochter von Beatrice, widersprach eine andere, leise Stimme in ihm. Und das ist im Grunde genommen dasselbe. Außerdem hast du Saddin versprochen, Michelle niemals allein zu lassen, sie immer zu beschützen. Denk an die Fidawi! Wenn sie jetzt kommen, gerade heute Nacht ...
    Das schlechte Gewissen begann in seinem Bauch wie Feuer zu brennen. Ali war kurz davor, wieder ins Haus zurückzukehren. Doch im letzten Augenblick besann er sich eines Besseren. Er musste Antworten bekommen auf seine Fragen, er musste mit diesem Juden reden. Noch heute. Es war wichtig. Nicht nur für ihn, sondern gerade auch für Michelle. Selbst wenn er es gewollt hätte, er hätte das kleine Mädchen nicht dorthin mitnehmen können. Und außerdem war sie gar nicht allein. Ihr Schlaf wurde wie jede Nacht von einer besonders zuverlässigen Dienerin bewacht, zu der die Kleine Vertrauen hatte und der er selbst auch vertrauen konnte. Dennoch war er besorgt - und das lag nicht nur an dem Versprechen, das er einem Sterbenden gegeben hatte. Er, der bislang sein freies, ungebundenes Leben ohne die leidigen Verpflichtungen eines Ehemannes und Familienvaters in vollen Zügen genossen hatte, der sich stets gesagt hatte, wie glücklich er sich schätzen könne, dass weder Kindergeschrei noch das Gezeter einer übellaunigen Frau seine wohlverdiente Ruhe störte oder ihn brutal aus seinen Studien riss - für ihn war plötzlich das Wohlergehen eines kleinen Kindes wichtiger geworden als alles

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